Ein Waldstück in Brandenburg. Erna Marx. Samstag, 07.09.2013

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Entgegen aller Erwartung, ob nun Lehrer, Mitschüler, Arbeitskollegen und Familie, ist aus Erna Marx keine Neofaschistin geworden. Die meisten hatten wohl geglaubt, da sie so klein und zart war, dass sie es nicht aus eigener Kraft dort (das heißt, diesem Milieu) hinaus schaffen würde. Oder weil sie als Kind keinen eigenen Willen besaß, dass sie die Rolle in einem nationalistischen Haushalt annehmen würde.

War sie noch als 11-jährige auf den „braunen Demos" mit marschiert und hatte brav Parolen geschmettert, so hatte sie sich bereits zwei Jahre später mit Tritten und Geschrei dagegen gewährt! Nun, elf Jahre später, krauchte sie durch ein verlassenes Waldstück, das einst einem befreundeten Förster ihrer Mutter gehört hatte, der es aufgrund mehrer Anzeigen und unbezahlter Strafen nicht mehr behalten durfte und es an die Gemeinde abtreten musste.

Sie musste viel daran denken, wie es damals gewesen war, als sie selbst noch Neo-Nazi war. Konnte sie das überhaupt sagen, denn nur weil sie mitgeschleift wurde, teilte sie noch lange nicht die Gedanken und Leidenschaft.

Doch im Grunde war es nicht anders, als alles was heute geschieht! Wie viele Menschen laufen bei der sogenannten „Alternative für Deutschland" mit, ohne von sich zu behaupten, zu wissen, weshalb.

Unter ihren Genossen bezeichnete sie sich selbst immer, als Aussteigerin der Rechten-Szene. Denn in Wahrheit war sie nichts anderes.

Würde ihre Familie wissen, wo sie war, würde kurz darauf ein Mob vor ihrer Tür stehen.

Und ganz offen gesagt: einen Namen wie „Erna" gab man sich nicht freiwillig!

Einen wie „Marx" hatte sie zu Ehren ihres großen Denkers „Karl" angenommen. Was würde mehr beweisen, dass sie nicht mehr zu den Neofaschisten gehörte, als der Name des bedeutendsten Kommunisten?

Als Erna an einem kleinen Hochstand vorbei kommt, muss sie anhalten und Luft holen. Die Schussverletzung, die sie sich zwei Jahre zuvor in Palästina zugezogen hatte, war zwar gut verheilt, schmerzte allerdings noch, wenn sie viel lief.

Die Kugel hatte mehrere Rippen verletzt und einen Milzriss verursacht und kam ausgerechnet aus dem Land „der unbegrenzten Möglichkeiten". Als man ihr das erzählt hatte, musste Erna hysterisch gelacht haben. Sie selber wusste es nicht mehr, da sie unter starken Schmerzmitteln (die Besten, die sie je hatte) gestanden hatte. Doch einer ihrer Genossen - ein junger Palästinenser - hatte ihr das Tage danach mitgeteilt.

Auch heute noch findet Erna es wahnsinnig ironisch ausgerechnet eine amerikanische Kugel abbekommen zu haben.

Noch ein letztes Mal durch atmen, denkt sie und streicht sich das kurze schwarzgefärbte Haar aus dem verschwitzen Nacken. Noch ein letztes Mal.

Wenige Minuten später erreicht sie die Waldhütte, die mehr an einen Bretterverschlag erinnert, Erna jedoch überaus gemütlich vorkommt.

Vor der Tür steht Peggy und raucht. Peggy, die eigentlich Margret heißt, raucht immer. Und genau das, findet Erna so toll an ihr. Die Welt könnte in tosendem Sturm und Feuer untergehen, Peggy würde sich erst einmal eine Zigarette anzünden und sich gemütlich daneben stellen und zu schauen.

»Sind alle da?«, fragt Erna und holt erneut tief Luft. Der letzte Anstieg war steil und Erna musste sich mehrfach auf dem Boden abstützen um hinauf zu gelangen.

Bevor Peggy antwortet zieht sie noch ein letztes Mal an ihrem Glimmstängel. »Kuno und Brigitte fehlen noch, sonst sind wir vollzählig.«

Das ist gut, denkt Erna. Denn sie müssten bald beginnen. Wer nicht schnell genug ist, wird übergangen. So haben sie es alle in Palästina gelernt. Und besonders Erna ist am Erfolg der Mission interessiert. Um es ihren faschistischen Eltern, ihrem rechten Bruder und dem gewalttätigen Neo-Nazi-Onkel zu zeigen. Und um zu beweisen, dass sie nicht dazu gehört. Dass sie nicht eine der Nazi-Schlampen ist.

Und natürlich um die kapitalistische Gesellschaft, die nur auf einer amerikanischen Kolonie basiert, wach zu rütteln und zu säubern. So wie es schon drei Gruppen vor ihr getan hatten.

Erna wurde nervös, als sie die vielen Genossen sah, die sich in der kleinen Hütte um den Kamin gescharrt hatten. Es waren bestimmt neun. Wenn nicht sogar zehn oder elf.

Vor Menschen zu reden, gehörte nicht zu ihren stärken. Etwas womit Nazis nie Probleme zu haben schienen.

Eine Welle der Angst fällt über sie herein. Was wenn sie durch diese Aktion von ihren faschistischen Verwandten gefunden wurde? Es würde nicht lange dauern, bis der Verfassungsschutz herausgefunden hatte, wer alles in den letzten zehn Jahren wo war. Und Palästina gehörte nun einmal nicht zu den besten Urlaubszielen.

»Da sind sie«, sagt Peggy und stupst Erna an um ihr zu zeigen, dass gerade Brigitte und Kuno herein kommen.

Kuno läuft schnellen Schrittes auf Erna und Peggy zu und umarmt sie stürmisch, während Brigitte noch einige Hände schüttelt.

Kuno selbst Neffe einer „Gruppe 1"-Angehörigen war schon länger als Erna dabei. Und doch hatte man ihr die Führung übergeben.

Sie würde legendär sein. Ihre Familie würde vor Angst erbleichen! Niemand würde es wagen, Erna und ihre politischen Motive je wieder anzuzweifeln.

»Wir sollten anfangen«, sagt Brigitte, die sich zu ihnen gesellt. Sie drückt schnell Ernas Schulter, eine aufmunternde Geste.

Auch Kuno lächelt ihr mutig zu.

Erna atmet tief durch, reibt sich über ihre Schussverletzung und stellt sich an die Stirnseite der Hütte.

»Liebe Genossinnen und Genossen, willkommen auf der ersten Hauptsitzung. Ich will gar nicht viel sagen, da jeder weiß, was er für die „Operation Gauland" zu tun hat«, sagt Erna und ihre Stimme ist stark und kräftig. Der komplette Gegensatz zu ihrem Äußeren.

»Dann lasst uns nur noch eins offiziell machen«, ruft sie und sieht sich nach Kuno, einem Neffen von Gudrun Ensslin, und Brigitte um. Beide haben ein entschlossenes Gesicht.

Erna holt Luft und dann spricht sie die Wort aus, die seit 1990 keiner in Deutschland zu wagen gesagt, geschweige denn hören wollte: »Die vierte Generation der Stadtguerilla ist wieder da! Die vierte Generation der Roten Armee Fraktion

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