Kapitel 1 - Eine ganz normale Heimfahrt

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Milchsaurer Schweißgeruch paarte sich in einem morbiden Tanz mit den Ausdünstungen roher Zwiebel und dem erdrückenden Parfum der alten Lady, die vor mir saß.

Sie starrte mich unverhohlen an, musterte meine Haare, meine Fingernägel, mein Outfit. Im Fenster der U-Bahn sah ich ihr unbemerkt dabei zu, wie sie die Mundwinkel verzog und melodramatisch mit den Augen rollte. Ich war mir sicher, dass sie immer wieder empörte »tss« und »pah« Laute von sich gab, die ich aber dank der Kopfhörer auf meinen Ohren nur in ihre Lippenbewegungen reininterpretierte.

Was wäre es für ein Segen die olfaktorischen Belästigungen ebenfalls so leicht ausblenden zu können, wie die akustischen. Wie die alte Lady wohl gucken würde, wenn ich mit einer Gasmaske statt einer OP-Maske bekleidet in der Bahn säße? Ich biss mir bei diesem Gedanken auf die Mundwinkel, um das sich anbahnende Grinsen zu unterdrücken, was mir jedoch nicht so ganz gelingen wollte. Mein Spiegelbild ähnelte danke dieser Grimasse einem Frosch mit saurem Drops im Maul, was der alten Lady glücklicherweise entging, nicht jedoch den drei Halbstarken mit gezücktem Smartphone auf dem Bahnsteig gegenüber. Na großartig.

Alles in allem war es heute nur eine ganz durchschnittliche Heimfahrt mit der U13, und längst nicht meine schlimmste. Wie fremdgesteuert ließ ich mich in die Welt meines Handys ziehen. Dort präsentierten sich mir, die Bilder von Menschen, die in einer anderen, surrealistischen – nein, hyperrealistischen Welt zu wohnen scheinen. Perfekte Körper, die am perfekten Sandstrand, den perfekten Sonnenuntergang genießen und sich in ihrer perfekten Liebe suhlen. Kotz. In dieser Welt gibt es keine Hautprobleme, keinen Klimawandel und keine Untreue. Dort postet niemand stolz sein Froschgesicht in der stinkenden U-Bahn. #nofilterneeded! Und in der Spiegelwelt gibt es keine Nächte, in denen man statt erholsamen Schlafs nur Falten im Spannbettlaken vom Umherwälzen findet. Tiefe Falten, in denen sich Zukunftsängste, Geldsorgen und Selbstzweifel einnisten und die einen des Nachts piesacken oder wie Getreide zwischen wuchtigen Mühlsteinen zermürben.


Nein, hinter dem Display war die Welt noch in Ordnung. Mehr als das – sie war perfekt! Und keine Sekunde würde ich zögern, böte man mir an diese meine Welt mit der Spiegelwelt zu tauschen.

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