Kapitel 2: Fuchsjagd

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D-541.76.I.81-098 acht Wochen später:
New York 1930. Oder vielmehr ein New York im Stil der 1930er. So eines, wie man es aus manchen Mafiafilmen kannte. Die Unbestechlichen ließen grüßen.
Eine dunkel gekleidete Frau stand barfuß in einer der modrigen Gassen Manhattans. Der nächtliche Regen perlte von der Kapuze ihres Mantels auf ihre weißen Strähnen hinunter. Der markante Duft von Moschus lag in der Luft und umspielte ihre feine Nase.

Männer in auffällig unauffälligen Trenchcoats sowie hübsche Damen in viel zu hoch geschnittenen Kleidern passierten die Gasse und erweckten den Eindruck, als sei diese Welt voller Privatdetektive, kleiner Ganoven und wunderschöner Frauen, die komplexe Pläne verborgen hielten.

Die junge Frau interessierte sich weder für die ahnungslosen Einheimischen noch für den in einer Mülltonne nach etwas Essbarem grabenden Obdachlosen. Sie fixierte schon eine Stunde lang das Firmengebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Von irgendwoher heulten Sirenen auf. Keine, die sich um das Geschehen in dieser Straße kümmern würden, dessen war Ginger sich sicher.

Bis auf die fahlbeleuchtete Lobby, bewacht von einem silberhaarigen Wachmann, der seiner Körperhaltung nach mit dem Rücken zu kämpfen hatte, waren alle Fenster dunkel. Niemand, der noch spätabends arbeitete.

Ginger seufzte. Die nasskalte Luft zog langsam unangenehm in ihren Nacken. Sie legte ihre Hand auf die kühle Haut und übte sanften Druck auf ihre schmerzenden Wirbel aus, bevor wieder eine Migräneattacke einsetzte.

»Diego?«, erhob Ginger ihre Stimme ins augenscheinliche Nichts und eine kleine Atemwolke bildete sich vor ihrem Mund.

Der winzige Knopf in ihrem linken Ohr knackte und eine Stimme ertönte aus dem Headset. »Alles ruhig hier. Die oberen Stockwerke sind clean«, antwortete der grünschwarz geschuppte Drache vom Dachgiebel eines nahegelegenen Hauses aus. Er beobachtete, wie das Licht in einem der unzähligen Zimmer des Wohnhauses links neben ihm erlosch.

Das Hochhaus überragte das Gebäude, auf dem er stand, um gut zwanzig Stockwerke. Es wunderte Diego daher nicht, dass früher oder später einer der Bewohner auf ihn aufmerksam wurde. In diesem Fall ein blonder Junge von etwa zehn Jahren. Er lugte schon die ganze Zeit versteckt hinter seinem Vorhang hinunter zu dem Drachen und war offenbar fasziniert von dessen Anblick. Erst als der Kleine merkte, dass dieser seine neugierigen Blicke mit seinen in der Dunkelheit bunt schimmernden Augen erwiderte, duckte sich der Junge weg und löschte das Licht.

»Gut, halte Augen und Ohren offen. Sie kommen ganz sicher noch. Ich hab's im Gefühl«, antwortete die junge Frau in der Gasse.

Der sechste Ohrring am linken Ohr vom weißen Kaninchen juckte heute wieder fürchterlich. Es war jener Ohrring, den er sich auf einem Mogwai versifften Markt in F-37 hatte stechen lassen nachdem er, die Eiskönigin Viola Queen und die alte Schlangenfrau Lamina dort aufgeräumt hatten. »Ich wäre entspannter, wenn ich wüsste, warum klein Gilligan wegen ein paar Springern so einen Aufstand macht. Im Ernst! Es gibt im Augenblick niemanden beim Netzwerk, der nicht an der Sache dran ist. Das ist doch schräg«, maulte er.

Dampf rieselte aus den Nüstern des Drachen und seine Zehenkrallen bohrten sich in den Beton des Dachgiebels. »Das Problem ist nicht das Weltenspringen an sich, sondern wie es passiert«, brummte Diego. »Wenn nicht einmal Gilligan versteht, wie die Springer von jetzt auf gleich hunderte von Welten überqueren, ist die Lage ernster, als wir dachten. Stell dir nur vor, was diese Leute in den falschen Händen anrichten könnten.« Diego zögerte. »Sie könnten zum Beispiel dazu gebracht werden, den Weltenfresser zurückzubringen.«

Lennerd verzog ungläubig das Gesicht. »Falls der Weltenfresser tatsächlich noch existiert, meinst du. Viola hat nie einen Beweis für ihre wilden Theorien gefunden. Bei all dem Zeug, das sie sich zusammengereimt hat, glaube ich eher, dass sie über die Jahre etwas gaga geworden ist. Zeitreisen, Verschwörungen und der ganz große Betrug um ihren Sieg. Völlig plemplem, sag ich dir.«

Tales from Haven 2: VerlorenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt