von Billy Talent
Ich werde nicht aufgeben, nicht ertrinken, sein Vorsatz hallt in seinem Kopf während er nach unten blickt.
Die Schrotflinte mit dem langen silbernen Lauf und dem dunkelbraunen Griff liegt geladen auf dem alten Holztisch. Ein weiteres Mal greift er zu der Flasche, die die dunkelrote Flüssigkeit von der Außenwelt abschirmt und setzt sie auf dem Rand seines Glases ab, sieht zu wie der Wein es füllt. Seine tauben Hände strecken sich nach dem kalten Getränk aus, führen es zum Mund und er lässt es seine Kehle hinunterfließen, wünscht sich dass es ein echtes Gift wäre, anstatt nur Alkohol, der ihn nur im Laufe der Zeit erlösen wird.Geschrei, Blut, Fleischfetzen, Tränen! Ein schmerzerfülltes Stöhnen entkommt seiner Kehle, als seine Erinnerungen wiederkommen, ihn wieder jagen, obwohl er sie doch die letzten Wochen so gut mit Tabletten und Wein hatte abtöten können. Dieses Erlebnis wieder und wieder Dank seines Erinnerungsvermögens zu durchleben ist die höchste Form aller Qualen. Es ist als würde er dort sein, in den Trümmern der U-Bahn Station stehen und all die Leichen und entstellten Gesichter sehen und ihr verbranntes Fleisch riechen.
Die weißen Wangenknochen der Frau, über die nur noch verbrannte Sehnen gespannt waren, die wenn sie reißen würden die linke Gesichtshälfte völlig zusammenfallen lassen würden. Das Kind was als Überreste seiner Arme nur noch blutverschmierte Stumpfe hat. Das Flackern der Lampen über ihm, das die Verwundeten nur noch schrecklicher wirken lässt. Dieser metallische Geruch, den er zu gut von seinem Gewehr kennt. Schließlich hatte er es schon oft genug zwischen den Zähnen. Warum verdammt ist er U-Bahn Schaffner geworden? Sicherlich nicht um von Terroristen in die Luft gejagt zu werden.Er, der gebrochene Mann, der durch die Trümmer läuft, sieht schlimm aus, keine Frage, hier und da ein paar Hautfetzen, blutverschmierte Haare von einer Kopfverletzung, ein Finger fehlt. Ja er sieht grausam aus, aber es ist kein Vergleich zu dem was beziehungsweise wer um ihn herum liegt. Schleppend, sein eines Bein hinter sich her schleifend, läuft er durch den Zug, der nun mehr einem Massengrab ähnelt als allem anderen. Dort! Eine kleine Bewegung! Ein Zucken einer verkrusteten Hand. Schnell humpelt er zu der Person, eine Frau mit verbrannten Beinen und wahrscheinlich wunderschön goldenem Haar, würde es nicht rot getränkt sein.
Sie atmet schwach, streckt ihre Finger, an denen einige Nägel fehlen nach seinem demolierten Gesicht aus und formt Worte mit ihren aufgeplatzten Lippen, die er jedoch kaum verstehen kann, da seine Ohren durch die Explosion zu sehr klingeln. Sie merkt es, versucht lauter zu reden und er greift nach ihrer kaputten Hand. Was sagt sie? Er versucht sich auf ihre Lippen zu konzentrieren. Was? Was?!„Rennen Sie." Endlich! Er hat ihre Worte verstanden! Bevor sein Gehirn verarbeiten kann was sie will geht die zweite Bombe hoch. KNALL!
Gleißende Hitze und grelles Licht blenden ihn und reißen ihn aus dem Wagon zurück auf seinen Stuhl, in die dunkle Küche.Kälte hüllt ihn ein, die heißen Tränen, die über sein gesenktes Gesicht laufen machen ihm das bewusst. Nicht umsonst hat er seit Tagen keinen Lichtschalter mehr betätigt, die Finsternis in diesem Raum verschont ihn, lässt nicht zu dass er in einen Spiegel gucken muss. Wenn er es täte würde ihn ein Toter anstarren, in dessen Augen alle Lügen der letzten Jahre stehen würden, alle Dämonen und Geister, die er nicht bekämpft hatte, die er nicht geschafft hatte zu besiegen. Die Therapie, nachdem seine posttraumatische Belastungsstörung festgestellt worden war, war unerträglich gewesen und letztlich hatte seine Psychologin es nicht geschafft ihn von der Schlafstörung, von den Halluzinationen, den psychosomatischen Schmerzen oder den Schuldgefühlen zu befreien. Alles was sich in dieser Zeit geändert hatte war sein Verhältnis zum Alkohol gewesen.
Ist er froh, dass er nicht mehr zu ihr gehen muss? Ja. Sollte er es sein? Nein. Doch da er zu keiner Sitzung mehr geht bleibt ihm der Hin- und Rückweg wenigstens erspart, der sich jedes Mal wie ein Gang durchs Fegefeuer angefühlt hatte. Die überfüllten Straßen entlang zu gehen, all diese glücklichen Gesichter zu sehen und sich trotzdem so alleine zu fühlen war unerträglich gewesen. Aber er ist selbst schuld an seiner Einsamkeit. All seine Freunde hat er aus seinem Leben ausgeschlossen, sie von sich gestoßen. Wie sollten sie ihn aber auch jemals verstehen? Sie sind nicht diejenigen, die die U-Bahn gefahren haben, nicht diejenigen die schreiend versucht haben bereits tote Menschen aus Trümmern zu ziehen, nicht diejenigen deren Kehlen durch die dunkle Kralle des Schmerzes beinahe erquetscht worden war.
Und er sah sie, immer wieder. Nicht nur die Opfer, die ihn auch im Schlaf folterten, sondern seine Liebsten, seine Freunde. Er sah sie in jeder Straßenlaterne, der er nach einer schlaflosen Nacht nach Hause folgte, sie sind sein Licht gewesen, sie sind seine Wegweiser gewesen und er hat sie alle gelöscht, alle aus seinem Leben gedrängt um ihnen Leid - sein Leid - zu ersparen.Ihr Verlust, ihr Verschwinden hatte er einfach in Wein ertränkt und der Gedanke daran lässt ihn sofort zu der immer noch offenen Flasche greifen, sie an seine Lippen setzen und trinken.
Er versteht sie, wenn sie ihn alle verlassen wollen, dann ist das in Ordnung. Es ist ok. Er würde das selbe tun.Das alles hier. Diese Situation ist nun mal sein Schicksal, er hat es angenommen. Er weiß, dass sein Ende kein Happy End sein wird, keine Frau die ihn durch ihre Liebe rettet, keine Kinder, die zu Weihnachten mit ihm einen Baum aufstellen werden, keine Genesung, keine Rettung. Nein. Seine Endstation ist ein Kreideumriss, den die Polizei um seine Leiche mit riesigem Einschussloch an der Schläfe, ziehen wird.
Die Waffe blitzt im Mondschein gefährlich auf und gibt ihre stumme Zustimmung.Doch er wischte die Tränen mit seinen Handballen weg, umklammerte die dunkelgrüne Glasflasche fester und starrt die Schrotflinte an. Er wird sein Arm heute nicht zu einem Messer, das ihm die Kehle auftrennen wird wandeln. Er wird nicht den Abzug betätigen, denn einer Sache ist er sich sicher; wenn er an die Himmelspforte klopft, wird er abgelehnt werden, wird in ein südlicheres Gebiet kommen. Wenn er abdrückt steht auf der Kugel nicht Himmel, sondern Fegefeuer. Und so starrt er weiter bis seine Sicht wieder verschwimmt, bis er Mond und Sterne nicht mehr voneinander unterscheiden kann und setzt die Flasche erneut an. Trinkt hastig, lässt die Flüßigkeit seinen Rachen füllen, lässt sie fließen obwohl er mit dem Schlucken nicht hinterherkommt, was für ihn die Frage aufwirft, ob das Nasse auf seiner Hose Rotwein oder Tränen eines verzweifelten Mannes sind. Es fühlt sich an als würde er ersticken, ersticken an der dunkelroten Suppe.
Ist das der Wein oder das Blut der unschuldigen Opfer?