Neo City

29 5 0
                                    


Neo City war die größte Stadt der nordamerikanischen Föderation. Sie war eine Megametropole wie es nur wenige neben ihr gab. Und während der Rest der Welt im Krieg versank, wuchs dieses Monstrum beständig weiter, als ernährte es sich von den Menschen, die Tag für Tag durch seine Tore strömten. Wie Motten vom Licht wurden sie von ihr angezogen, ein verheißungsvoller Moloch am Horizont, der ihnen Ruhm und Reichtum versprach. Und wenn nicht das, dann bot sie zumindest schnellen Sex und billigen Alkohol, der einem die Leber wegätzte und alle Probleme für kurze Zeit vergessen machte.

Neo City, ein Name gleich einem Versprechen. Diese Stadt, wenn man sie überhaupt noch so bezeichnen konnte, war ein Ort mit eigenen Gesetzen und Regeln. Sie war ein Ort, wo das Paradies in den Wolken lag, während die Straßen in Gewalt und Dreck versanken. Ich hasste sie wie kaum etwas anderes. Und gleichzeitig konnte ich es nicht erwarten sie endlich wiederzusehen. Zehn Jahre war es jetzt her, dass ich diesen beschissenen Ort verlassen hatte. Und heute, um viele Erfahrungen reicher und mit einem Plan, der mich in große Gefahr bringen würde, kehrte ich schließlich zurück.

Ich saß in einem Zug, der mit rasender Geschwindigkeit auf dieses Höllenloch zuhielt, als konnte er es kaum erwarten den Staub der Wastelands abzuschütteln und endlich den Geruch von blankpoliertem Stahl einzuatmen, der Neo City so einzigartig machte. Es war eine beeindruckende Maschine, eine 98er Vanderbilt mit dem Namen Gin-Yajirushi. Die Lok, ein Ungeheuer so groß wie ein Haus, war stromlinienförmig und glänzte in makellosem Silber, während sie zwei Dutzend Waggons hinter sich herzog. Nur zu gern hätte ich behauptet, dass einer davon mir gehörte. Aber ich war neu, weshalb ich nur ein kleines Abteil bekommen hatte, welches ich mir mit ein paar Freaks teilen musste. Aus diesem Grund saß ich, wie die meiste Zeit, wenn ich nicht schlief, im Speisewagen und starrte aus dem Fenster. Argwöhnend, was die kommenden Tage für mich bereithalten mochten, beobachtete ich die Skyline, die Golden-Heights, die sich langsam aus dem Nebel schälte. Jedes ihrer Gebäude war gigantisch. Sie waren Paläste aus Stahl und Beton, zwischen denen sich lange Brücken spannten, als existierte dort oben eine ganz eigene Welt. Doch so beeindruckend sie auch sein mochten, verblasste ihr Stolz vor dem, was hinter ihnen lag. Es war das Center, ein Titan in Ketten, der über allem thronte.

Ich presste mein Gesicht an die Scheibe, um besser sehen zu können. Sobald das kühle Glas meine Stirn berührte, spürte ich die Vibrationen des Zuges, die wie ein Herzschlag durch das Metall zuckten. Klack klack, die Räder donnerten über die Schweißverbindungen der Schienen. Klack klack, wir überquerten den nächsten Abschnitt. Klack klack, und den nächsten. Irgendwann hatte ich aufgehört zu zählen. Der Klang von Stahl auf Stahl verblasste und wurde zu einem Hintergrundrauschen, wie das Surren des Windes, der über die Einöde fegte.

Gleich war es so weit, dachte ich und kniff die Augen zusammen. Der dichte Nebel, der sich wie ein Schleier über Neo City gelegt hatte, brach auf und ließ mich erahnen, wie gewaltig das Gebäude war, das nun unheilvoll über der Stadt aufragte. Das Center war ein Gigatower, dessen Spitze hoch in den Wolken lag. Er war einer der fünf großen Machtpole der Welt und Sitz der Aristokraten, die wie Götter über uns herrschten. Über eine Meile ragte er in den Himmel auf, ein Olymp aus Metall geschmiedet, der von gewaltigen Ketten am Boden gehalten wurde.

„Na, schon aufgeregt?", sagte eine kratzige Stimme neben mir und riss mich unsanft aus meinen Gedanken. „Ich an deiner Stelle wäre es. Bald hast du dein Debüt. Die alte Yukiko wird dir das Leben zur Hölle machen, wenn du es versaust. Und das auch nur, wenn du Glück hast".

Es war Mimo der gesprochen hatte, ein kleiner dürrer Mann, mit einem Kichern wie Schmirgelpapier. „Hallo Mimo", entgegnete ich, ohne auf sein Plappern einzugehen.

„Hallo Mimo? Das ist alles, was du dazu zu sagen hast? Hallo Mimo?"

„Was wäre dir denn lieber?", entfuhr es mir bissig. „Soll ich demütig auf die Knie fallen?"

„Oho, das wäre mal was Neues", gab er euphorisch zurück. „Würdest du das wirklich tun?"

„Lass es mich so sagen: Verpiss dich!" Ich knallte ihm die Worte gegen den Kopf und sah zu, wie der Ausdruck freudiger Erregung aus seinem Gesicht wich. Sein Mund hatte sich in eine schmale Linie verwandelt und wirkte jetzt, wie ein dünner Strich, der absolut gerade zwischen Nase und Kinn verlief. Doch wenn ich geglaubt hatte, er würde nun einfach verschwinden, täuschte ich mich gewaltig. Mit einer schwungvollen Bewegung sprang er auf den Sitz mir gegenüber und blickte mich aus seinen blassen Augen an, als wollte er mich sezieren.

„In wenigen Minuten erreichen wir den Bahnhof von New Oak", zischte er mich an. „Danach hast du noch etwa drei Stunden, bis die Show losgeht. Du glaubst vielleicht, du wärst bereit, fühlst dich stark, was? Aber das bist du nicht." Er lachte. „Oh ich sehe schon dein hübsches Gesicht vor mir, blutverschmiert und voller Dreck. Eine gute Show wird das. Diese Stadt wird dir einen Empfang bereiten, den du arrogantes Miststück mehr als verdient hast!"

Ich rollte mit den Augen und drehte mich weg.

Tatsächlich erreichten wir schon kurz darauf den Bahnhof. New Oak war das Vergnügungsviertel von Neo City und lockte mit Clubs und Bars und so vielen Bordellen, dass ein Leben allein nicht ausgereicht hätte, um sie alle zu besuchen. Als ich wieder aus dem Fenster blickte, standen bereits hunderte Menschen an den Gleisen, die vor und zurück schwankten wie eine wogende Masse aus Leibern. Sie jubelten, als die Gin-Yajirushi in Sichtweite kam. Doch anstatt zu halten, rauschten wir an der Menge vorbei und bogen auf ein Gleis ein, das uns in eine gigantische Halle führte.

„Nanu? Was soll das?", nuschelte ich unverständlich an niemand bestimmtes.

„Was das soll? Jetzt siehst du die Gin in Aktion! Pass gut auf", sagte Mimo, ohne dass ich ihn um eine Antwort gebeten hatte.

Er ist ein merkwürdiger kleiner Kerl, dachte ich. Vermutlich um die dreißig, auch wenn sein schütteres Haar ihn deutlich älter wirken ließ. Und er war einer dieser Menschen, die nie verstanden, wann sie verschwinden sollten.

„Besser du hältst dich fest, wenn der Zug von den Gleisen steigt", sagte eine weitere Stimme hinter uns.

„Blueberry!?", rief Mimo sichtlich überrascht. „Aber was machst du denn ..." Sofort verstummte der kleine Mann, als die Frau eine Hand hob. Und auch ich hielt für einen kurzen Moment den Atem an, als ihre Augen, zwei dunkelblaue Perlen, mich voll Neugier betrachten. Sie wanderten über mein Gesicht, huschten über meinen Oberkörper und blieben schließlich an meinen Armen hängen, die sie auf sonderbare Weise zu faszinieren schienen.

„Kann ich dir helfen?", wollte ich von ihr wissen. Auch wenn es mir schmeichelte von einer solchen Frau beachtet zu werden, war mir ihr schamloser Blick unheimlich.

„Du? Das weiß ich noch nicht. Vielleicht kannst du das ja wirklich." Sie legte den Kopf schief. Leuchtend violettes Haar fiel auf ihre Schulter. „Aber vielleicht täusche ich mich auch."

Das verwirrte mich. Eine Frage löste sich von meinen Lippen während ich aufstand und auf sie zugehen wollte. Dumme Idee. Ich sah noch wie Blueberry mit einer Hand ihren schwarzen Zylinderhut festhielt, während ihre andere sich um eine Eisenstange schloss. Ein ohrenbetäubendes Zischen drang unter dem Zug hervor, Menschen bellten Befehle, und schon kurz darauf krachte mein Kopf mit einem dumpfen Schlag gegen die Wand.

Blueberry PunchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt