Ich wusste nicht, wie lange ich auf dem Boden gelegen hatte, doch als ich aufwachte, stierten mich zwei blasse, silbermilchgraue Augen an.
„Sie hat dir doch gesagt, dass du dich festhalten sollst", flüsterte Mimo mit einem Grinsen im Gesicht. Ich wollte es ihm ausschlagen wie einen wackligen Zahn, den man zu lange ignoriert hatte. „Blueberry ist klug. Und da du dumm bist, solltest du das nächste Mal auf sie hören. Sie meint es nur gut, weißt du? Sie ist nicht wie Yukiko. Andererseits, niemand ist wie die alte Yukiko." Wieder lachte er. „Übrigens, du hast noch zehn Minuten bis zu deinem Auftritt. Ich an deiner Stelle würde mich beeilen. Aber was weiß ich schon. Ich bin ja erst seit fünf Jahren hier. Warum sollte ein arrogantes Miststück wie du also Tipps von mir annehmen."
Stöhnend drehte ich mich zur Seite. Mein Schädel tat höllisch weh. Ich wollte etwas auf Mimos Worte erwidern. Doch als ich endlich die Kraft gefunden hatte, mich aufzurappeln, war er längst verschwunden. Was verdammt ist gerade passiert, fragte ich mich, während ich mich an einem Tisch hochzog. Schwankend kam ich auf die Füße. Ich griff mir ein Glas, in dem eine klare Flüssigkeit schwamm, und kippte es in einem hinunter.
„Fuck", spuckte ich angewidert aus und donnerte das Glas gegen die Wand. Was auch immer darin gewesen war, Wasser war es jedenfalls nicht. Hustend blickte ich aus dem Fenster. Und erneut löste sich ein leises, aber erstauntes „Fuck", aus meiner Kehle. Die Gin-Yajirushi hatte ihre Position verändert. Sie stand jetzt nicht mehr auf den Schienen in der großen Halle, sondern auf einem freien Platz, mitten in New Oak. Ihre Waggons hatten sich in einem Halbkreis angeordnet und in ihrer Mitte waren Buden, kleine Zelte und eine Arena entstanden, um die sich bereits eine große Zahl Menschen versammelt hatte.
„Wie?", stammelte ich. Und dann sah ich es. Die silberfarbene Lok hatte sich vom Boden erhoben und bewegte sich in der Luft wie der Kopf einer gigantischen Schlange. Erst machte ich meine Kopfschmerzen dafür verantwortlich. Aber wie sich herausstellte, bildete ich mir das nicht ein. Am unteren Teil der Lok, knapp über den Rädern, befanden sich mechanische Beine. Und nicht nur dort. Auch die Waggons wurden von diesen spinnenbeinartigen Gebilden getragen und verliehen dem Zug die Aura eines monströsen Tausendfüßlers.
„Mesdames et Messiers", donnerte plötzlich eine Stimme durch die Lautsprecher und ließ das geschäftige Treiben für einen Moment erstarren. „Willkommen, willkommen im Cirque de Monstres!", rief sie über den Platz. „Über die Wastelands sind wir angereist und haben schreckliche Strapazen auf uns genommen, damit wir Ihnen hier und heute, in der Stadt der Städte, eine Show liefern können, die Sie niemals vergessen werden! Hereinspaziert, hereinspaziert! Kaufen Sie jetzt Ihre Tickets und werfen Sie einen Blick auf die größten Absonderlichkeiten, die die Welt zu bieten hat! Haben Sie je vom lebenden Skelett gehört? Anton De Vries, süße siebzehn Jahre alt, hat vielleicht nur noch Wochen zu leben. Er ist so dünn, dass Sie sein kleines Herz schlagen sehen können unter einer Haut, so zart wie Seidenstoff. Nutzen Sie Ihre Chance und bestaunen Sie seine morbide Lieblichkeit, bevor es ein für alle Mal zu spät ist." Die Menge stöhnte auf bei diesen Worten. „Aber nicht doch, nicht doch", beruhigte die Stimme. „Seien Sie nicht traurig, denn wir haben ja noch andere Attraktionen!" Applaus brandete auf. „Asante Araptani, die Spinne aus Uganda. Ein Mann mit vier Beinen und vier Armen. Und wenn Ihnen das noch nicht reicht, dann besuchen Sie unsere einzigartige Lady Gargantua! Aber ich warne Sie. Verstecken Sie lieber Ihre Kinder." In die Stimme drängte sich ein gemeines Kichern. „Denn wir übernehmen keine Haftung, wenn Ihre lieben Kleinen als Leckerbissen enden." Jetzt lachte die Menge. Und sie lachte laut.
Es dauerte eine Weile, bis die Stimme, Yukikos Stimme, wie ich nun erkannte, wieder zu sprechen begann. „Und nun, als Auftakt unserer Show, werden wir Ihnen ein Spektakel bieten, welches Neo City würdig ist. Machen Sie sich bereit für die Furios Fists!" Lautes Gebrüll brach aus. Jubel und ekstatische Schreie hallten wie Kriegsrufe durch die Straßen von New Oak.
Mimo hatte die Wahrheit gesagt, wurde mir schlagartig klar. Mein Auftritt war nur noch Momente entfernt und ich befand mich im Zug und starrte dämlich aus dem Fenster. „Fuck." Sofort rannte ich los, spurtete durch den engen Korridor des Speisewagens und zwängte mich durch die Tür hinaus ins Freie.
Als ich bei der Arena ankam, hörte ich meinen Namen durch die Lautsprecher schallen. Doch der tosende Lärm war nun so laut, dass ich kaum verstand, was Yukiko über mich gesagt hatte. Egal, dachte ich und sprang in den Pit. Als ich flog, spürte ich die Energie des Moments. Ich fühlte die Spannung in der Luft, die durch die Menge jagte, bis alle davon infiziert waren. Und gerade, als sie ihren Höhepunkt erreicht hatte, landete ich geräuschvoll in der Mitte der Arena, bereit meinem Gegner die Scheiße aus dem Leib zu prügeln.
Als ich mich erhob, musste man mir die Verwirrung angesehen haben, denn vor mir stand nicht nur ein Gegner, dort standen drei.
„Wie war dein Name gleich noch?", fragte einer von ihnen dämlich grinsend.
„Ich bin ..."
„Ist doch scheiß egal, wer das Arschloch ist", unterbrach mich der zweite.
„Genau", stimmte der dritte mit ein. Und dann griffen sie an. Sie ließen mir keine Zeit die Situation zu erfassen oder ihre fetten Körper zu studieren. Kaum hatte ich mich in Kampfposition begeben, preschten sie voran wie Dampfwalzen, die kurzen Prozess machen würden. Als der Erste von ihnen bei mir war und mit seiner Faust gegen mich ausholte, begann ich meine Show.
„Zu langsam, Fettsack", zischte ich ihm entgegen. Und noch ehe er etwas erwidern konnte, duckte ich mich unter ihm weg und rammte ihm meinen Ellbogen so heftig in die Seite, dass selbst das Publikum den Schmerz zu spüren glaubte.
Uhhh, raunte ein Teil der Menge. Die anderen jubelten mir zu.
Ein lautes, dumpfes Klatschen signalisierte mir, dass sein schwerer Körper zu Boden gefallen war. Doch ich schaute schon nicht mehr hin. Ich konzentriere mich auf Fettsack zwei und drei, sprang auf sie zu und ließ meine Fäuste wie ein Feuerwerk auf sie niedergehen. Meine Schläge waren nicht präzise, aber sie waren spektakulär! Kiefer brachen, Knochen splitterten und Blut spritze in mein Gesicht wie ein warmer Sommerregen.
Kurz darauf, als ich nur noch gequältes Stöhnen um mich herum hörte, riss ich meine Arme in den Himmel und tänzelte siegesgewiss zwischen meinen Gegnern. Das sollte es gewesen sein? Was für eine Enttäuschung, dachte ich und drehte mich zum Gehen um. An dieser Stelle hätte ich wirklich aufmerksamer sein müssen, denn der erste Fettsack, von dem ich glaubte, er würde noch immer benommen im Dreck liegen, stand plötzlich vor mir. Er hielt einen Baseballschläger in der Hand und grinste mich boshaft an. Ich erschauderte bei seinem Lächeln, denn da, wo vorher noch Zähne waren, klafften nun große, blutverschmierte Löcher. Sofort sprang ich zurück. Ich hob einen Arm, im Versuch mein Gesicht zu schützen, doch zu spät. Mit einem grauenhaften Knall krachte der Schläger gegen meinen Kopf. Ich glaubte explodierende Sterne zu sehen, Rot und Gelb und hell wie die Sonne. Ich hörte ein ekelhaftes Knirschen durch meine Knochen fahren, wie ein Blitz, der mich zu spalten versuchte. Und dann ... Dunkelheit.
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Blueberry Punch
Short StoryEs gibt einen Ort, an dem Träume wahr werden, an dem Reichtum und Macht auf Jene wartet, die nur danach greifen. Es gibt einen Ort, an dem kein Wunsch ungehört bleibt und an dem deine tiefsten Begierden Erfüllung finden, wenn du bereit bist den Prei...