Kapitel 1

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Das einzige, was Lady Compton noch am Leben hielt, waren die Briefe. Nicht ihre Freunde in der Stadt, die mit der Zeit immer weniger wurden, und auch nicht ihre beiden Kinder. Nein, es waren die Briefe. Mit lausiger Handschrift bekritzeltes Papier von einer Frau, die am anderen Ende des Landes lebte, fast gänzlich abgeschieden von der Zivilisation auf ihrem Landsitz, der eigentlich viel zu gross für ihre kleine Familie war.

Meine Mutter liebte diese Briefe und seit Vaters Tod verging kein Tag, an dem sie nicht auf einen dieser Papierfetzen wartete oder gar selbst einen verfasste. Inzwischen war es schon so weit gekommen, dass sie mehr mit ihrer Brieffreundin sprach als mit uns. Tagein und tagaus sass sie in ihrem Zimmer oder verkroch sich, wenn sie sich einmal extrovertiert genug fühlte, in unseren Salon, in den aber sowieso niemals Gäste eingeladen wurden.

Heute war zur Abwechslung einmal so ein Tag. Ich nutzte die Gelegenheit und spielte ein paar Stücke auf dem alten Klavier, das seit dem Umzug unseren einst prächtig weissen Flügel ersetzte, um meiner Mutter vorzuführen, welche Fortschritte ich doch gemacht hatte. Sie bemerkte es nicht einmal, schaute nur gebannt auf die Wanduhr, deren Zeiger langsam über die Nummer elf krochen.

„Eine wunderschöne Melodie, Miss Compton. Welches Stück ist das?", komplimentierte mich Mary, die gerade mit meinem kleinen Bruder auf dem Arm in den Salon kam. Sie setzte den Jungen auf dem weichen Teppich ab, der sich sogleich kichernd auf dem Boden herum rollte. Ich lächelte. Wenigstens einer in unserer Familie war noch glücklich.

„Eine Eigenkomposition.", antwortete ich unserer Haushälterin, so als wüsste sie dies nicht schon bereits. Ich arbeitete an dem Stück nun schon seit fast einer Woche. Mary nickte anerkennend und fügte ein „Wundervoll, so talentiert.", hinzu.

Lady Compton hatte die Arme verschränkt und wippte ungeduldig mit dem Fuss, als Jacob mit der Post kam. Er hatte eine ganze Reihe an Briefen auf einem Silbertablett gestapelt und stellte dieses auf dem Klavier ab. Den einzigen Brief, der neben dem Stapel gelegen hatte, reichte er meiner Mutter, die ihn ihm sogleich aus der Hand riss, als würde ihr Leben davon abhängen. Mit flinken Fingern brach sie das goldgelbe Siegel mit dem geflügelten Wildschwein der Familie Everly und öffnete das elfenbeinfarbene Briefpapier. Sie zog die Brauen zusammen.

„Der Brief ist von Lucy...", murmelte sie abwesend.

Ich verdrehte die Augen. Lucinda Everly war nach meiner Mutter, Lady Lucinda Compton, benannt worden. Unsere Mütter kannten sich schon seit Ewigkeiten und wann oder wo sie sich eigentlich kennengelernt hatten, wusste niemand mehr so genau. Fakt war, dass die beiden so etwas wie Seelenverwandte waren, obwohl sie wie Tag und Nacht waren: Meine Mutter, ein beispielloses Bild an Grazie und Eleganz, und Lady Everly, plump und ungeschickt. Ich hatte ihre Tochter Lucinda bisher einmal in meinem Leben gesehen und das reichte mir auch.

Wir waren damals beide noch Kinder gewesen und mein Bruder war noch gar nicht geboren, als wir die Everlys einmal auf ihrem Landsitz besucht hatten. Schon als ich sie das erste Mal gesehen hatte, hatte ich sofort gewusst, dass wir definitiv keine Freundinnen werden würden. Ich erinnerte mich noch genau daran, wie Lucinda immer nach Stall gerochen und Schmutz auf den Kleidern gehabt hatte. Ihre Eltern hatten sie immer den ganzen Tag allein spielen lassen, sowas hinterliess natürlich Spuren. Anfangs hatte ich zumindest noch versucht, freundlich zu dem Mädchen zu sein, doch als sie mir dann voller Stolz ein mit Schnecken verseuchtes Gemüsebeet gezeigt und mich dann, als ich nicht den gewünschten Enthusiasmus gezeigt hatte, mit einem der Tiere in der Hand gejagt hatte, war mich jeglicher Rest von Sympathie für sie verloren gegangen und ich hatte meine Mutter weinend darum angefleht, von diesem schrecklichen Ort zu verschwinden. Nacktschnecken-Lucy, wie ich sie insgeheim nannte, war mir damals noch Wochen später in meinen Albträumen begegnet.

Bei dem Gedanken an sie musste ich unwillkürlich die Nase rümpfen und meine Finger verrutschten auf der Klaviatur, sodass anstatt eines melodischen Dreiklangs ein viel zu lauter, höchst unangenehmer Akkord zu hören war. Der kleine Albert zuckte auf dem Boden kurz zusammen und Mary, die meiner Mutter gerade Tee einschenkte, sah zu mir hinüber.

Ich gab es mit dem Klavierspiel auf und widmete mich dem ungeöffneten Stapel Briefe, die mir Jacob gebracht hatte. Ein paar Einladungen zum Tee und viel zu viele Rechnungen für meinen Geschmack. Das übliche also. Wegen der Rechnungen würde ich mich heute Nachmittag wohl mit Mary zusammensetzen müssen, sie hatte da den besseren Überblick. Vielleicht könnte sie...

Klirr!

Ich schreckte auf. Der kleine Beistelltisch neben dem Sessel war umgekippt, die Teetasse, die Mary zuvor noch aufgefüllt hatte, auf dem Boden zersprungen. Inmitten von feucht glänzenden Scherben und Teeflecken lag meine Mutter, vollkommen regungslos, noch immer den Brief in ihrer Hand. Wie versteinert sass ich da, konnte nicht fassen, was gerade passiert war. Vor ein paar Sekunden war es ihr doch noch gut gegangen, wie konnte das sein?

Erst das Weinen des kleinen Alberts auf dem Boden holte mich aus meiner Schockstarre und ich hob ihn schnell hoch und drückte ihn an mich. Seine kleinen Fäuste schlugen wild um sich, als er versuchte, sich umzudrehen und immer wieder nach seiner Mama schrie. Auch als er kräftig zubiss und ich vor Schmerz zusammenzuckte, behielt ich seinen Kopf dicht an meiner Schulter. Er sollte so etwas nicht sehen müssen.

Mary war indes zu meiner Mutter gelaufen und hatte den Brief, den sie umklammert hatte, an sich genommen. Mit jeder Zeile, die sie las, verengten sich ihre Augen immer mehr und ihre Lippen verzogen sich zu einer harten Linie, während Jacob, der wegen des Lärms hereingestürmt gekommen war, neben Lady Compton kniete und versuchte, erste Hilfe zu leisten.

Ich zitterte und versuchte vergeblich, meine Tränen zurückzuhalten. Unsere Haushälterin lies den inzwischen zerknitterten Brief sinken und sah mich an. „Was...", ich schluckte, um das Beben in meiner Stimme zu unterdrücken. „Was steht dort?"

Die Schreie meines kleinen Bruders waren so laut, dass ich Marys Stimme nicht hörte, doch konnte ich die Antwort von ihren Lippen ablesen. Es war nur ein einziges Wort.

Mord."

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So, das war das erste Kapitel!

Zuerst einmal euch allen ein frohes Neues! Ich hoffe, ihr seid alle gut ins neue Jahr gestartet! Habt ihr irgendwelche Vorsätze oder Ziele für 2023?

Wenn euch das Kapitel gefallen hat, lasst doch gerne einen Vote da (ich vergesse manchmal, dass es diese Funktion überhaupt gibt xD). Solltet ihr irgendwelche Verbesserungsvorschläge haben, könnt ihr diese gern in die Kommentare schreiben.

Euch allen noch einen guten Start ins neue Jahr und bis nächsten Sonntag!
Man liest sich!
- L

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