„Die Damen?"
Jacob öffnete die Tür der Kutsche und half zuerst Lucy und dann mir beim Aussteigen.
„Danke.", murmelte ich. Er nickte höflich, dann schien ihm etwas einzufallen. „Ich muss heute noch Kohle und Holz für den Herd kaufen gehen. Es kann sein, dass ich mich etwas verspäte, um euch abzuhol-"
Ich unterbrach ihn. „Nein, nein, ist schon in Ordnung. Du kannst dir ruhig Zeit lassen, Jacob. Lucy und ich können laufen, ist ja sowieso kein weiter Weg bis Stone Bridge."
Wieder nickte er. Dann schloss er die Tür und verabschiedete sich, während er sich wieder auf den Kutschbock setzte und schliesslich davonfuhr.
„Er lässt uns einfach hier zurück?"
Ich wandte mich an Lucy, die mit verschränkten Armen neben mir stand. „Von der Inner Sling Street ist es nur eine halbe Stunde zu Fuss. Ausserdem wird es noch hell sein, wenn der Unterricht vorbei ist. Also keine Sorge."
Die Braunhaarige zog eine ihrer unförmigen Brauen hoch. „Trotzdem kann ein Diener das nicht einfach so machen."
Ich erwiderte nichts darauf und ging einfach los. Was bildete sich Lucy eigentlich ein? Wir konnten von Glück reden, dass Jacob überhaupt noch da war. Im Gegensatz zu unseren vielen Bediensteten, die wir früher einmal gehabt hatten, hatten er und Mary sich als treueste von allen erwiesen, indem sie uns nicht einfach wie alle anderen verlassen hatten.
In der Inner Sling Street waren weder Kutschen noch Pferde oder sonstige Transportmittel erlaubt. Auch wenn mein Leben an Farbe verloren hatte, so konnte ich sie hier immer wieder aufs Neue finden. Die Fassaden und Schilder der unzähligen Läden auf der rechten Seite der Strasse leuchteten in allen Farben des Regenbogens bei dem Versuch, die Aufmerksamkeit der Passanten zu erregen. Zu unserer Linken glitzerte das klare Wasser der Flussschlinge, welche dieser Strasse ihren Namen verlieh. Kleine Ruderboote trieben in der seichten Strömung und konnten von schneeweissen Sitzbänken am Strassenrand beobachtet werden. Das Geschnatter von tratschenden Damen und brummenden Herren verschmolz zu einer summenden Melodie, unterstrichen von dem Lachen der Kinder, die sich auf die warmen Pflastersteine gesetzt und die Füsse ins Wasser baumeln liessen, ihre teuren Lederschuhe achtlos auf dem Boden liegend. Ja, die Inner Sling Street war eine Strasse voller Reichtum, Wohlstand und Glück. Hier gab es keine Diebe, Betrüger, Lügner oder tote Väter. Nur lächelnde Menschen, die wie ein aufgeregter Schwarm Bienen durch die Strasse wuselten, Verkäufer, die aus den offenen Ladentüren ihre Ware anpriesen, und der Duft von frisch gebackenen Törtchen.
Mir lief das Wasser im Mund zusammen bei dem Gedanken an die kleinen süssen Köstlichkeiten, die wir uns schon seit Monaten nicht mehr leisten konnten. Damals hatte ich mir immer vor dem Besuch bei Madame Gadeaut ohne grossartig nachzudenken ein Törtchen oder ein kleines Stück Kuchen geholt, nicht ahnend, dass ich sie für lange Zeit wohl nicht mehr haben würde. Solche Dinge waren einfach selbstverständlich gewesen, meine vielen, kleinen Freuden des Alltags. Törtchen, Kleider, Schuhe, Schmuck... alles inzwischen undenkbar geworden. Der Stern der Familie Compton war dabei zu verglühen und es gab nur noch eine einzige Möglichkeit, dies zu verhindern.
Entschlossen ballte ich die Hände zu Fäusten und marschierte los, den Kopf hoch erhoben, wie es sich für eine Dame gehörte. Lucy strauchelte hinter mir her, versuchte ungelenk schritt zu halten. Ich drehte mich zu ihr, hielt aber nicht an. Wir waren zeitlich relativ knapp dran und Unpünktlichkeit war etwas, das die ohnehin schon nachtragende Madame Gadeaut einem nicht so schnell verzieh.
„Bevor wir reingehen", fing ich also an, „muss ich dich vorwarnen."
Wieder zog sie eine Augenbraue hoch, ihr Blick wanderte misstrauisch nach rechts, dann nach links, bis er wieder auf mir ruhte. „Wovor?"
Ich lachte. „Also nicht im Sinne von lebensnotwendig oder so. Aber du solltest dich vor Celeste und Estelle in Acht nehmen. Alles, was du ihnen über dich verrätst, wird entweder weitererzählt oder gegen dich verwendet."
Lucy entspannte sich sichtlich. „Ach so, ich dachte, das wäre bei euch sowieso normal."
„Bei uns?", hakte ich nach und legte den Kopf schief. „Wie darf ich das denn jetzt verstehen?"
Sie zuckte die spitzen Schultern. „Na ja, bei den feinen Stadtmädchen halt. Aber du scheinst ja nicht dazuzugehören."
Ich wusste, dass Lucy es nicht so gemeint hatte, doch ihre Aussage versetzte mir einen kleinen Stich. Nein, ich gehörte nicht dazu. Nicht mehr.
„Wo wir schon einmal beim Thema sind...", fing ich an. „Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du -sollten die anderen fragen- sagen könntest, dass wir immer noch in Lavender Gardens wohnen.*
„Warum?"
„Na ja-", doch ich wurde jäh von einem „Alice! Hier drüben!" unterbrochen.
Anabelle drängte sich durch dich die vorbeiziehenden Menschen, wich jedem graziös aus, ihr tänzelnder Gang verlieh ihr den Anschein, als würde sie durch die Menge schweben. Das sanfte Lächeln auf den mit Puder geröteten Wangen liess die Sonne heller strahlen und das Glitzern des Flusses war kein Vergleich zu den freundlich blau strahlenden Augen, die auf mich gerichtet waren. Ihre Schokoladenbraunen Haare flossen ihren schmalen Rücken hinab und bewegten sich wie ihr lavendelfarbenes Nachmittagskleid im Rhythmus ihrer Bewegungen mit ihr. Mehrere der Passanten blieben stehen und betrachteten sie mit vor Ehrfurcht geöffneten Mündern, als würden sie nicht glauben, ein solch perfektes Geschöpf vor sich zu sehen.
Ihr Lächeln wurde breiter als sie bei uns ankam und mich in ihre schlanken Arme schloss.
„Ach Alice, ich muss dir was erzählen!", ihre zarte Stimme klang stets als würde sie singen. Sie war sanft und dennoch einzigartig genug, um unter all den anderen aufzufallen.
„Also, ich habe- oh!", erst jetzt schien sie Lucy, die sich mit verschränkten Armen neben mich gestellt hatte, zu bemerken. „Verzeihung! Wie unhöflich von mir. Wir hatten wohl noch nicht das Vergnügen."
Wieder schnellte Lucys Augenbraue nach oben, was eher einer Zuckung als einer bewussten Mimik glich. „Lucy Everly." Im Gegensatz zu Annabelles Stimme klang ihre alt und kratzig. Nun, im Gegensatz zu Annabelles Stimme klang zwar alles alt und kratzig, aber bei unserem Gast schien dieser Kontrast ausserordentlich ausgeprägt zu sein. Dass sie dabei nicht eine Spur von Freundlichkeit zeigte, machte diesen Umstand nicht gerade besser.
Annabelle senkte ihren Blick und knickste. Sie war dabei so graziös als würde sie auf der Bühne ein Ballett vorführen.
„Annabelle Steward. Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Lady Everly.", sie zögerte, dann hob sie die grossen, blauen Augen und fügte ein „Ich habe von dem Vorfall gehört, das muss schrecklich gewesen sein. Mein tiefstes Beileid."
Ihr Tonfall war weder von verhülltem Spott noch von Belangläufigkeit getrübt, sie schien es wirklich aufrichtig zu meinen. Trotzdem dachte Lucy nicht einmal daran, den Knicks zu erwidern, sondern verschränkte nur die Arme.
„Danke.", es war eine Floskel, nichts weiter. Sie schien das Mädchen gar nicht ernst zu nehmen. Eine unangenehme Pause entstand.
Ich biss mir auf die Wange und blickte von der einen zur anderen, bis ich es nicht mehr aushielt. „Lady Everly ist gerade heute angekommen, sie ist noch ganz erschöpft von der langen Reise,"
Dankbar nahm Annabelle meine Vorlage auf. „Oh, aber natürlich. Wir sollten zu Madame Gadeaut gehen, sie wartet nicht gern. Dort können Sie sich setzen, Lady Everly."
Die Angesprochene nickte nur. Schweigend setzten wir uns in Bewegung. Dank Annabelle machten uns die meisten Passanten Platz. Ich spürte ihre Blicke auf mir, als sie sich im Vorbeigehen umdrehten. Gegen das braunhaarige Mädchen waren nicht nur Lucy, sondern auch ich hässliche Entlein.
Wir rafften unsere Röcke, als wir die wenigen Stufen zum Eingang des pastellenen Hauses erklommen. Überall anders wäre die zartrosa Fassade wohl als kitschig angesehen worden, doch inmitten der farbenfrohen Gebäude der Inner Sling Street wirkte sie gar zurückhaltend. Zwei Empfangsherren standen zu beiden Seiten der weissen Flügeltüre und verbeugten sich, sobald sie uns sahen.
„Die Damen.", sie zogen an den goldenen Griffen, die die Form von Rosen hatten, und liessen uns ein. Der Eingangsbereich von Madame Gadeauts Etikettenschule war nicht weniger Pompös. Durch den weissen Marmorboden und der holzvertäfelten Wand wirkte der Raum trotz der wenigen Fenster grösser als er eigentlich war und die vielen zartrosa Rosen in ihren Kristallvasen sorgten für eine elegante und dennoch freundlich einladende Atmosphäre.
Anstatt die weisse Wendeltreppe nach oben zu nehmen, bogen wir nach links ab, in den Salon.
Mehrere kleine, rosa Sofas waren in Form eines Halbkreises mit Blick auf die Wand aufgestellt. An der Wand selbst war nur ein Zettel aufgehängt. Ich wusste bereits, was darauf stand und unwillkürlich bohrten sich meine Finger in den dicken Stoff meines Kleides. Dieses vermaledeite Stück Papier hing schon seit Beginn der Heiratssaison dort und war das Gesprächsthema Nummer eins. Alles drehte sich darum und würde das noch eine ganze Weile tun.
„Ach da ist sie ja!", rief jemand schnatternd und die Stimmen, die zuvor noch den Raum ausgefüllt hatten, verstummten. Auf den Sofas sassen mehrere Mädchen unterschiedlichen Alters und Herkunft. Das einzige, was sie alle gemeinsam hatten, war Geld. Jede einzelne ihrer Familien war reich oder zumindest so gut situiert, dass sie einen Status in der gehobenen Gesellschaft innehalten konnten. Sie alle blickten uns an. Ein paar überheblich, ein paar gelangweilt und ein paar freundlich. Die freundlichen waren die giftigsten.
Bei dem Mädchen, das gesprochen hatte, handelte es sich unleugbar um Celeste. Sie und ihre Schwester Estelle waren die, die mit Abstand am freundlichsten lächelten.
„Annabelle, herzlichen Glückwunsch! Sechsundvierzig innerhalb von drei Wochen! Das muss wohl ein neuer Rekord sein!", verkündete das Mädchen und zwirbelte unschuldig eine Locke ihres roten Haares um ihren behandschuhten Finger.
Mein Magen verkrampfte sich und ich sah auf den Zettel an der Wand. Es handelte sich um eine Liste. Alle Namen von Madame Gadeauts diesjährigen Schülerinnen waren alphabetisch in feinsäuberlicher Handschrift aufgeführt, hinter ihnen eine unterschiedliche Anzahl von Strichen. Annabelles Reihe ging inzwischen schon fast bis zum Rand des Papiers. Bald würde man wegen ihr wohl ein zweites daneben aufhängen müssen.
Lucy, die hinter mir eingetreten war, meldete sich zu Wort. „Sechsundvierzig was?"
Zwölf Augenpaare wanderten zu ihr und Celeste verzog spöttisch den Mund. Ich hätte Lucy nicht das Lachsfarbene Kleid geben sollen, es stach sich furchtbar mit ihrem Teint und liess sie noch bleicher aussehen, als sie es ohnehin schon war. Der einzelne braune Lederhandschuh verlieh ihr das ungepflegte Aussehen eines Bettlers, den man in ein altes, inzwischen aus der Mode gekommenes Kleid gesteckt hatte.
„Tut uns leid, aber wer bist du nochmal? Ich glaube nicht, dass ich dich schon einmal hier gesehen habe.", fragte Celeste. Ihre Zwillingsschwester neben ihr schnaubte verächtlich.
„Ich bin Lucinda Everly. Lady Lucinda Everly."
Die Rothaarige verschränkte die Arme und setzte ein so falsches Lächeln auf, dass mir der Tee von heute Nachmittag hochzukommen drohte. Sie schien einen Moment zu überlegen, dann entschied sie sich doch dazu, ihren Stolz hinunterzuschlucken und deutete einen Knicks an.
„Oh, Entschuldigung. Ich wusste nicht, dass Sie die Lady Everly sind. Celeste Dreadford mein Name und das", sie zog das Mädchen neben sich zu sich nach oben, die es ihr gleichtat und noch fauler knickste, „ist meine Schwester Estelle."
„Es tut uns ja so unglaublich Leid, was passiert ist!", meinte Estelle mit überzogener Stimme. „Setzen Sie sich doch zu uns."
Dieses Mal bedankte sich Lucy nicht, sondern nickte zur Wand. „Was ist das für eine Liste?"
„Das...", fing Celeste an.
„...sind die Zählungen der Heiratsanträge.", endete Estelle. Die beiden kicherten.
Lucy kniff die Augen zusammen und ging näher zur Wand, um den Zettel genauer zu begutachten.
„Wow", meinte sie und nickte anerkennend. „Annabelle, du hast ja tatsächlich sechsundvierzig."
Die Angesprochene nestelte an ihrem Kleid herum und zuckte mit den Schultern. Sie schien etwas sagen zu wollen, als ihr Celeste ins Wort fiel.
„Ja! Mehr als das Doppelte einer durchschnittlichen Debütantin. Nun ja, das passiert halt, wenn man jedem immer schöne Augen macht."
„Und", fügte Estelle hinzu. „Keiner von ihnen wird noch grosse Sympathie für sie übrig haben, wenn sie alle erst einmal abgelehnt hat. Zuerst verführen und dann fallen lassen, so ist unsere Annabelle nun mal."
„Die gute Annabelle Steward."
„Wohl eher Annabelle Sprunghaft."
Wieder kicherten die beiden und ein paar der anderen Mädchen im Raum stimmten leise mit ein.
Annabelle hatte sich indes wieder gefangen und marschierte mit geradem Rücken zu einem der noch leeren Sofas. Ich folgte ihr. Es war nicht fair, dass die Zwillinge so auf ihr herumhackten.
„Nimm es nicht persönlich.", flüsterte ich ihr zu. „Du weisst ja, wie sie sind."
Sie nickte unmerklich.
Lucy wollte uns schon zum Sofa folgen, als Celeste wieder anfing, zu reden. „Lady Everly", sagte sie in gekünstelt freundlichem Tonfall „setzen Sie sich doch zu uns. Sie scheinen bessere Gesellschaft nötig zu haben, nach allem, was Ihnen widerfahren ist. Neben mir und meiner Schwester ist noch ein Platz frei."
Lucy setzte ein breites Lächeln auf und ging auf die beiden zu. Die Mädchen rutschten zur Seite und Celeste klopfte auf die nun freie Stelle neben sich. Direkt vor den beiden blieb die Braunhaarige stehen. „Ach wie lieb von Euch. Ich brauche durchaus dringend bessere Gesellschaft. Schön, dass euch das selbst schon aufgefallen ist."
Und damit machte sie auf dem Absatz kehrt, marschierte wieder quer durch den Raum und setzte sich ungelenk neben Annabelle und mich.
Ich musste ein Lächeln unterdrücken. Zwar hätte Lucy ihren Abgang einiges eleganter gestalten können, aber er war trotzdem doch sehr gelungen. Die Zwillinge rutschten unruhig wieder auseinander und erdolchten uns mit ihren Blicken. Wieder erfüllte Gekicher den Raum und ich genoss jeden Augenblick davon.
„Du brauchst gar nicht so selbstgefällig zu schauen, Alice.", zischte Estelle.
„Genau!", stimmte ihr ihre Schwester zu. „Kümmere du dich erst einmal um dich selber. Du hast nur einen einzigen Strich bis jetzt."
„Und das ist ihr eigener Onkel.", fügte erstere wieder hinzu.
Ich verschluckte mich und nutze das Husten, um mich zu fangen. Woher wusste sie das? Wie hatte sie davon erfahren? Ich hatte niemandem davon erzählt und Onkel Edgar doch hoffentlich auch nicht.
Im Raum war es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Alle Augen waren jetzt auf mich gerichtet. Die meisten ehrlich geschockt, andere wiederum belustigt. All ihre Blicke trugen aber etwas in sich, das sie zu verbergen drohten und was dafür verantwortlich war, dass sich ein Kloss in meinem Hals bildete. Ekel.
„Was?", Lucy hatte sich auf ihrem Platz zu mir gedreht. „Dein Onkel hat dich gefragt, ob du ihn heiraten willst?"
Ich zuckte mit den Schultern und versuchte, nicht laut zu werden. „Und wenn schon?", sagte ich also so beherrscht wie möglich. „Ich muss den Antrag ja nicht annehmen." Meine Stimme zitterte leicht, fast eine Oktave höher als sonst, und ich strich über die Falten meines Kleides, um niemandem in die Augen blicken zu müssen.
Die Zwillinge gackerten kurz, dann sagte eine von ihnen: „Na ja, wenn du nicht bald noch andere Kandidaten findest, wird das schwierig."
„Aber zum Glück bleibt das ja in der Familie.", wieder gackerten sie, dieses Mal lauter. Ich sah zum Zettel an der Wand, zu dem einen, dünnen Strich hinter meinem Namen. Das Schlimme war, dass sie recht hatten. Wenn ich niemand anderen fand, so war ich verpflichtet, den Antrag von Onkel Edgar anzunehmen. Dass wir zum Glück nicht einmal blutsverwandt waren, würde niemanden interessieren. Er trug den Namen Compton und allein das war schon Grund genug für einen Skandal. Meine Unterlippe begann zu beben und ich zwang mich, nicht sofort weinend aus dem Saal zu stürzen.
Annabelle neben mir legte mir die Hand beruhigend auf die Schulter. „Es ist lieb, dass ihr euch ja so sehr um Alice sorgt.", sagte sie. „Aber ich fürchte, dazu besteht kein Anlass. Die Liste ist nämlich nicht aktuell."
Verblüfft schaute ich ihr nach, als sie aufstand und zu dem kleinen Tischchen an der Wand mit dem Federkiel und Tintenfass schritt und dann einen makellosen, geraden Strich hinter dem ersten setzte.
Celeste hob eine Augenbraue. „Das ist aber schön zu hören! Wer ist es denn dieses Mal, Alice? Dein Vater?", übertrieben legte sie ihre dünne Hand ans Kinn und tat so, als würde sie nachdenken. „Ach nein, geht ja gar nicht mehr. Entschuldige."
Meine Hände ballten sich zu Fäusten und zerknitterten den Stoff meines Kleides. Für einen Moment fiel mir das Atmen schwer und ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen. Abrupt erhob ich mich und stapfte auf die Zwillinge zu, zumindest wäre ich das, wenn Lucy mich von hinten an der Bindung meines Korsetts festgehalten hätte.
Annabelle schien noch wütender zu sein, als ich. Ihr sanftes Lächeln war einer verkniffenen Maske gewichen, die Augen abschätzig auf Celeste gerichtet. „Henry Thompson. Prinz Henry Thompson."
Verwirrung. Das beschrieb wohl den Gefühlszustand aller Anwesenden im Saal. Keiner sagte etwas, alle starrten abwechselnd auf Annabelle, als hätten sie sie nicht recht verstanden, und dann auf mich, die noch immer vor dem Sofa mit feuchten Augen und einem zerknitterten Rock stand und von Lucy festgehalten wurde.
„Tut mir leid, Alice.", Annabelle lächelte wieder. „Ich wollte dir das schon vorhin erzählen, aber na ja."
Anmutig schwebte sie wieder zu uns und zog mich mit ihr zurück aufs Sofa. Lucy lehnte sich wieder zurück und musterte die Zwillinge, die pikiert miteinander tuschelten.
„Eines würde mich aber noch interessieren.", begann sie und nickte burschikos zur Wand. „Ich bin ein Einzelkind, deshalb hab ich mich schon immer gefragt, wie es wohl sein muss, ersetzbar zu sein."
Die Zwillinge drehten sich so zackig zu ihr um, dass einige der anderen Mädchen im Saal vor Schreck quiekten.
„Wie dürfen wir denn das bitte verstehen, Lady Everly?", fragte Estelle dann mit zusammengekniffenen Augen.
Die dünnen Lippen der Braunhaarigen verzogen sich zu einem schadenfrohen Grinsen. „Nun, um ehrlich zu sein, kann ich euch beide nicht unterscheiden und die edlen Gentlemen, die euch Anträge gemacht haben, vermutlich auch nicht. Ihr habt beide...", mit leiser Stimme zählte sie kurz die Striche auf der Liste. „... siebzehn Interessenten. Meint ihr, es würde ihnen auffallen, wenn eine von euch beiden plötzlich, ich weiss nicht... sterben würde?"
„Was fällt dir eigentlich ein, du...", begann Estelle mit hochrotem Kopf, wurde aber von Madame Gadeaut, die gerade den Saal betrat, unterbrochen.
„Miss Dreadford!", ermahnte sie sie, ihr französischer Akzent nach all den Jahren noch immer schwer. „Von einer Dame erwarte ich eine kultiviertere Ausdrucksweise. Vor allem, wenn sie meinen Unterricht besucht."
Sie warf einen kurzen Blick auf die Liste. „Ah, Miss Compton, ein weiterer Antrag. Sehr gut. Sie stehen allerdings im Rückstand. Geben Sie sich etwas mehr Mühe. In der ganzen Saison hat man Sie bisher noch auf keinem einzigen Ball gesehen."
„Entschuldigung, meiner Mutter geht es im Moment nicht gut und ich...", versuchte ich zu erklären, doch sie hob nur die Hand.
„Ich möchte keine Ausreden hören. Eine Dame verhält sich immer so, wie es von ihr erwartet wird. Das gilt vor allem für schwierige Situationen. Ich erwarte Ihre Anwesenheit auf Lady Shepards Ball nächste Woche."
Ich nickte, versuchte nicht daran zu denken, wie teuer ein dafür angemessenes Kleid doch war. „Jawohl, Madame Gadeaut. Ich freue mich bereits auf die Festlichkeiten."
„Sehr gut, Miss Compton.", dann fiel ihr Blick auf Lucy neben mir und sie lächelte. „Ah, Lady Everly. Wie schön, dass Sie uns heute mit Ihrer Anwesenheit beehren."
Die Angesprochene sah sie verwirrt an. „Woher wissen Sie, wer ich bin?"
„Eine Dame kennt immer all ihre Gäste, Lady Everly.", sagte die alte Frau mit verschwörerischem Lächeln und stützte sich auf ihren mit Edelsteinen besetzten Gehstock. Dann fügte sie hinzu: „Vielleicht können die jungen Damen heute ja etwas von Ihnen lernen."
Lucy kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Nee, glaub ich eher nicht. Aber von Ihnen werde ich sicher ganz viel lernen."
Die Grauhaarige vor uns rümpfte die Nase. „Nun denn", sie setzte sich und schlug die Beine übereinander. „Beginnen wir mit dem Unterricht."
Während Madame Gadeaut über die Wichtigkeit einer angemessenen Haltung sprach, lehnte ich mich unmerklich hinüber zu Lucy.
„Das vorhin mit den Zwillingen hättest du nicht tun sollen.", zischte ich ihr zu. „Die Dreadfords besitzen fast alle Kohleminen hier. Du kannst dir nicht vorstellen, welchen Einfluss ihre Familie hat. Das wird noch ein ganz, ganz übles Nachspiel haben."
Das Mädchen lächelte und für einen Moment ähnelte sie wieder dem überdrehten Kind von früher, als wir noch zusammen gespielt hatten. Vielleicht war Lucy doch gar nicht so übel. Ja, sie wusste nicht, wie man sich in feiner Gesellschaft verhielt und war vermutlich schwer traumatisiert, aber sie hatte sich für mich eingesetzt. Schlussendlich war sie wohl kein allzu schlechter Mensch. Vielleicht würden wir ja doch noch Freunde werden können.
Ihr Lächeln wurde breiter, bis ihre unregelmässigen Zähne zum Vorschein kamen. Ihre Augen hatten einen seltsamen Ausdruck angenommen und mir lief es kalt den Rücken hinunter. Die Illusion einer schwesterlichen Freundschaft wurde endgültig zerschmettert, als sie wisperte: „In der Tat. Das wird ein ganz, ganz übles Nachspiel haben."
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Geisterauge
Mystery / ThrillerNichts ist so, wie es scheint. Denn als Lucy, die vermeidlich einzige Überlebende des Mordanschlags auf ihre Familie, zu Alice und deren Mutter zieht, passieren seltsame Dinge: Seit Lucys Ankunft scheint eine neue, tödliche Krankheit in der Stadt ih...