Kapitel 2

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Inzwischen war die Nachricht in aller Munde. Die Everlys samt ihrer Dienerschaft waren auf ihrem Landsitz ermordet worden. Die verkohlten Überreste des Kochs hatte man im Ofen gefunden, die Hausmädchen waren abwechselnd erdolcht oder erdrosselt und Lord Everly war in seinem Arbeitszimmer mit einem Brieföffner die Kehle durchgeschnitten worden. Das einzige Opfer, das nicht im Haus gestorben war, war Lady Everly: Ihre Leiche hatte sich im Garten befunden. Mit aufgerissenen Augen, in unnatürlichen Winkeln abstehenden Gliedmassen und gebrochenem Schädel war sie auf dem Kiesweg unter ihrem zersprungenen Schlafzimmerfenster gelegen. Ob sie gestossen worden oder doch bei einem Fluchtversuch gestorben war, darüber war man sich uneinig.

Manche vermuteten, dass man einen Auftragsmörder auf die Familie angesetzt hatte oder eine kriminelle Sekte dahintersteckte. Wieder andere meinten, dass Lady Everly selbst für die Morde verantwortlich gewesen war und danach Selbstmord begangen hatte. Jeder behauptete etwas anderes und je mehr Zeit verging, desto abstruser wurden die Theorien. Das einzige, was der Wahrheit entsprach war der Fakt, dass nur eine einzige Person überlebt hatte: Lucy Everly. Pardon, inzwischen Lady Lucy Everly. Lady Lucy Everly, die genau in diesem Moment auf dem Weg zu uns war.

Meine Mutter war vor ein paar Tagen nur knapp mit dem Leben davongekommen und das alles dank Jacob. Hätte er nicht so schnell gehandelt, wäre es wohl zu spät gewesen. Die offizielle Erklärung war, dass ihr Herz durch den Schock einen Aussetzer gehabt hatte, aber um ehrlich zu sein, glaubte ich, dass ihre Gesundheit schon angefangen hatte zu leiden, als sie damit begonnen hatte, sich selbst in ihrem Zimmer einzusperren und sich auf die blöden Briefe zu konzentrieren. Seitdem war sie kein einziges Mal mehr vor die Tür getreten. Heute war also eine Premiere.

Wir alle warteten vor unserer Haustür. Mary hatte Lady Compton einen Stuhl hinausgestellt, auf den sie sich setzen und Albert auf ihren Schoss nehmen konnte. Seit dem Vorfall wollte der Kleine ihr nicht mehr von der Seite weichen und ich musste ihm jeden Abend Mohnblumensaft einflössen, damit er zumindest ein bisschen Schlaf bekam.

„Alice, aufrecht stehen.", wies sie mich zurecht. Ich straffte die Schultern und presste die Lippen aufeinander. In den wärmenden Sonnenstrahlen glitzerte der Tau auf dem Rasen unseres kleinen Gärtchens und ich musste unwillkürlich an Zuhause denken. Nicht dieses hier, nein, unser richtiges Zuhause. Verglichen mit unserem alten Anwesen war dieses Haus eine Barracke. Damals, als wir noch in Lavender Gardens gelebt hatten, war das Leben noch Farbenfroh gewesen. Im Frühling und Sommer hatten die zart violetten Blumen geblüht und ihren süssen Duft verströmt. Im Herbst hatten Vater und ich es geliebt, unter den feuerroten und -gelben Bäumen der Chestnut Alley zu spazieren und uns Geschichten über die Passanten, die an uns vorbeigekommen waren, auszudenken. Und im Winter strahlten die Eiszapfen unter der hohen Dachkante in allen erdenklichen und umerdenklichen Farben und tauchten je nach Tageszeit Teile unserer Fassade abwechselnd in blau und dann lila. Einmal war ich so lange draussen geblieben und hatte das Eis angestarrt, dass ich an den folgenden drei Tagen mit laufender Nase und Blechhusten im Bett bleiben musste. Zum Trost hatte mir Vater am zweiten Tag eine Kette mit Diamant-Anhänger geschenkt, der fast genauso schön geleuchtet hatte. Ich hatte sie nicht ein einziges Mal getragen.

Mit seinem Tod hatte mein Vater auch die Farbe aus meinem Leben genommen. Das grosse Anwesen wurde zu einem kleinen Haus, dicht gedrängt an noch kleinere Häuser; die üppigen Gärten verschmolzen zu dreckig grauen Pflastersteinen und der morgendliche Nebel, der immer über die Wiesen gewabert war, hatte sich zu dunklem Rauch verfärbt, der aus den unzähligen Schornsteinen in unserer Strasse trat und uns bis spätestens zur Mittagszeit der Sonne beraubte und eine graue Schicht zurückliess, wann immer es regnete.

Ich wischte mir die Tränen aus den Augenwinkeln und blies Luft in meine inzwischen vor Kälte geröteten Hände. Es war definitiv ein Fehler gewesen, auf den Mantel zu verzichten.

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