Kapitel 10 - Der Wolf und das Versprechen

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Was? Ich hatte noch keine Halluzinationen, oder? Bevor meine Gedanken wieder ihren verrückten Gang nehmen konnten, entschied ich mich dafür, mein Herz sprechen zu lassen. Mein Verstand hatte sich sowieso längst verabschiedet.

»J-ja«, brachte ich gerade so hervor. Ich konnte kurz die Überraschung in seinen Augen aufblitzen sehen, dann kam er mir immer näher, bis sich unsere Lippen berührten. Auch wenn es nicht das erste Mal war, es fühlte sich anders an. Besser. Ich schloss die Augen und öffnete meinen Mund leicht, um mich ganz auf den Kuss einzulassen. Wie von selbst bewegten sich meine Arme und ich legte sie ihm um die Hüfte. Seua küsste mich vorsichtig, als hätte er Angst, mir wehzutun. Ich hatte Gänsehaut am ganzen Körper. Langsam fuhr er mir mit der Hand den Nacken entlang, zog mich sanft noch ein bisschen näher zu sich. Jede Berührung von ihm in diesem Moment war kaum auszuhalten.

Langsam löste er sich von mir, legte seine Stirn an meine und sah mich forschend an. Ich spürte nur, wie wieder alle meine Gedanken auf mich einströmten. Ich schob Seua von mir, stolperte zur Tür und sobald ich auf dem Flur angekommen war, begann ich zu rennen. Was hatte ich da gerade getan? Der Flur kam mir vor wie ein Tunnel, der niemals endete. Ich lief an jemandem vorbei. Hinter mir hörte ich Schritte, daher beeilte ich mich, in den Aufzug zu kommen. Erst als sich die Türen vor mir schlossen, schaffte ich es, kurz aufzuatmen. Ich habe zugelassen, dass er mich küsst. Er. Seua. Ein Typ. Noch dazu einer der bekanntesten Schauspieler. Was sollte das alles? Warum? Warum ich? Wieso? Da ich überhaupt nicht mehr klar denken konnte, versuchte ich es einfach abzuschalten. Trotzdem sah ich immer sein Gesicht vor mir und diesen sanften Blick. Cai! Ganz ruhig! Als ich hörte, wie die Aufzugtüren wieder aufgingen, bahnte ich mir meinem Weg zum Ausgang, wo zum Glück auch niemand war. Sobald ich einen Fuß auf den Bürgersteig gesetzt hatte, rannte ich. Es war zwar schon dunkel, doch ich ließ mir von den Straßenlaternen den Weg weisen. Die Lichter der Autos verschwammen vor meinem Blick, ich spürte die Tränen auf meinen Wangen. Ich verstand gar nichts mehr. Weder ihn noch mich noch sonst irgendetwas an dieser Situation. Die Flucht gab mir die Sicherheit, mich aus dieser Überforderung zu retten. Meine Flucht musste für die Leute, die um diese Uhrzeit noch unterwegs waren, ein bizarres Bild abgeben. Andererseits befanden wir uns in einer Großstadt, das waren sie vermutlich gewohnt. Solange es meine Lungen und Beine zuließen, rannte ich weiter, sah Geschäfte, Menschen und Fahrräder an mir vorbeiziehen. Irgendwann bog ich in eine Gasse ab, wo ich mich schweratmend an eine Wand lehnte. Meine Lunge und Augen brannten, es dauerte ziemlich lange, bis sich meine Atmung beruhigt hatte. Auch meine Beine machten nicht mehr mit, sie waren zittrig, nur die Wand hielt mich aufrecht. Bis auf den kleinen Teil, der noch von der Straße beleuchtet war, war die Gasse stockdunkel. Ich war wirklich ein Meister darin, mich in schwierige Situationen zu bringen. Als nachtblinder, orientierungsloser Mensch ohne Handy, nachts in einem fremden Land herumzulaufen, das konnte nur ich bringen. Die Gefühle, die alle durcheinander waren, kamen noch dazu. Am besten ich versuchte mich nur auf meine Atmung zu konzentrieren und fühlte gar nichts. Dazu schloss ich die Augen, da ich ohnehin kaum etwas sah. Doch die Dunkelheit konnte die Gedanken und Gefühle nicht abstellen. Ich hörte Schritte, die immer näherkamen. Als ich die Augen öffnete, sah ich Seua neben mir, der sich auf seine Beine abgestützt hatte und keuchte.

»Cai..was..machst du denn?«, brachte er zwischen den Atemzügen hervor. Mein Fluchtreflex setzte wieder ein, ich machte kehrt und wollte weiter in die Gasse laufen. Seua packte mich am Handgelenk: »Bist du bescheuert? Das ist gefährlich!«

Ruckartig drehte ich mich um, löste mich gleichzeitig aus seinem Griff: »Ja, bin ich!«

Wieder spürte ich meine Tränen, doch in diesem Moment war es mir einfach egal.

»Anders als du, bin ich es nicht gewohnt, Typen zu küssen! Aber das ist noch nicht mal mein Problem! Ich verstehe es nicht. Warum machst du das? Willst du mir oder Dice was beweisen? Hast du es gemacht, weil ich dich provoziert habe? Es waren bestimmt so viele Typen, da macht das auch keinen Unterschied mehr. Ich weiß einfach nicht, was ich denken oder fühlen soll! Du bist ein Star, wieso solltest du dich mit Leuten wie mir abgeben? Doch weißt du was das Schlimmste an der Sache..«, ich konnte nicht zu Ende sprechen, da nahm er mich in den Arm.

WolfsherzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt