Kian starrte aus dem Fenster auf den Sandsturm, der draußen tobte. Rot-schwarze Partikel flogen durch die Luft, wurden verwirbelt und prallten gegen die Fensterscheibe. Er machte sich Sorgen. Blickte immer wieder hinaus, in die Ferne, in der Hoffnung, dort eine Gestalt auftauchen zu sehen.
Schon seit seiner Geburt lebte er auf diesem Planeten am Rande des Gaia-Sektors. Nur wenige Leute kamen hierher. Die giftigen Gase und Partikel in den Sandstürmen hatten bereits vielen Menschen den Tod gebracht.
Er griff nach seinem Holopad. Das Gerät war bereits alt. In letzter Zeit spann es ständig. Er klickte auf das Anrufen-Symbol.
Die Verbindung konnte leider aufgrund aktueller Wetterereignisse nicht hergestellt werden. Bitte versuchen Sie es später erneut.
»Scheißteil.« Er ging zurück zum Fenster. Das Naturspiel sah von hier drinnen spektakulär aus. Es war faszinierend, diese Farben zu sehen, den dichten orangenen Nebel, der die Sicht versperrte, und dann die schwarzen dicken Flocken, die herumtanzten. Man vergaß leicht, dass dieser Sturm tödlich war.
Er hatte lange genug gewartet. Kian nahm seine ID-Karte vom Tisch in der kleinen Küche. Dann ging er zur Tür. Er trat aus der Wohnung. Direkt gegenüber befand sich der Fahrstuhl.
In diesem Moment öffnete sich die Tür. Cylie kam heraus, in der Hand eine Gasmaske und einen Schutzanzug. Ihr Blick traf auf ihn. »Was machst du, Kian? Du willst doch nicht wieder raus?«
Er ignorierte ihren drängenden Blick. »Ich habe gerade keine Zeit. Später, Cylie.«
»Nein!« Cylie stellte sich ihm in den Weg. »Es ist viel zu gefährlich da draußen, Kian! Du weißt, was beim letzten Mal passiert ist.«
Natürlich konnte er sich daran erinnern. Vor zwei Wochen war er das letzte Mal herausgegangen, mitten in den Sturm. Die Bilder tauchten wieder vor seinem Auge auf. Wie er orientierungslos herumtappte. Um Hilfe schrie, weil er nicht mehr wusste, wo er war. Und dann packte ihn eine Hand von hinten, zog ihn auf ein Speederbike. Seine Retterin drehte sich zu ihm um. Cylie.
So war Kian. Leichtsinnig. Aber glaubt nicht, dass er dumm war. Er wusste genau, was er tat. Er war bereit, sein Leben zu riskieren.
»Ich muss aber raus, Cylie!«
»Unsinn! Warum solltest du das müssen, Kian?«
Er schnaufte. »Er ist noch nicht zurück, Cylie. Eigentlich wollte er vor drei Stunden wieder da sein.«
Cylie zuckte mit den Schultern. »Na und? Vielleicht hat er sich verspätet. Es wäre nicht das Erste mal, dass Cassian länger arbeiten muss. Sein Chef ist ein Arschloch.«
»Ich fühle es aber, Cylie.« Kian starrte an ihr vorbei. Die Aufzugstür schloss sich wieder. »Lass mich durch, Cylie. Ich kann spüren, dass etwas nicht in Ordnung ist.«
Er schluckte, als er das aussprach. Bislang hatte er es verdrängt, aber mit einem Mal kam das Gefühl in ihm hoch. Panik. Er sah Cassians Gesicht vor sich, seine wunderschönen blauen Augen, sein Lächeln, das jedes Mal aufs Neue ein warmes Gefühl in Kian hervorrief. Es versetzte Kian einen Stich.
Ohne eine Antwort von Cylie abzuwarten, stieß er sie beiseite. Sie schrie auf, aber er drehte sich nicht um, rannte einfach an ihr vorbei. Die Aufzugtür war geschlossen. Dann würde er die Treppen nehmen.
In diesem Moment entschied sich das Schicksal einzugreifen. Zumindest kann ich es mir nicht besser erklären. Wie anders wäre alles verlaufen, wenn er die Tür erreicht hätte, wenn er nicht auf dem Boden ausgerutscht und hingefallen wäre? Hätte er dann mitbekommen, wie sich die Aufzugstür erneut öffnete? Wie zwei Herren heraustraten, beide in Uniformen? Offizielle.
In diesem Moment wusste Kian alles. Wie ich euch gesagt habe: Kian war leichtsinnig. Er war bereit, sein Leben zu riskieren. Aber er war keineswegs dumm.
Und so versuchte er nicht einmal, aufzustehen. Er blieb einfach liegen. Mit einem Mal war alle Kraft aus ihm gewichen. Er blickte zu den beiden Offiziellen. Verschwommen kamen sie aus dem Aufzug, während Kian Tränen über das Gesicht rollten.
Er blickte zu Cylie, konnte alles in ihrem Gesicht lesen. Zuerst die Verwirrung. Sie war nicht so schnell im Erfassen wie Kian. Dann die Erkenntnis. Der Schock. Und dann die Trauer.
Ein Schrei zerriss die Stille. Ein klagender Schrei, der mittendrin erstarb.
»Kian.« Cylie taumelte auf ihn zu.
Ein Stich fuhr durch Kians Körper. So stark, dass er erbebte, dass er sich aufbäumte vor Schmerzen. Er schrie. Schrie alles heraus. Weil er verdammt noch mal gewusst hatte, dass etwas nicht stimmte. Weil er verdammt noch mal etwas hätte tun sollen.
Es fühlte sich an, als hätte jemand ihm einen Dolch ins Herz gebohrt und umgedreht.
»Kian!« Cylie war plötzlich neben ihm, strich ihm über das Gesicht. Er schluchzte noch stärker. Tränen liefen über sein Kinn, aber das bemerkte er nicht mal mehr.
»Er ist tot!« Er schrie Cylie an, schrie es ihr ins Gesicht, so als wäre es ihre Schuld. »Er ist tot, Cylie!«
Ich kann den Blick von Kian in diesem letzten Moment nicht vergessen. Dieser tiefe Schmerz, der sich in seinen Augen spiegelte. Und dann rappelte der Junge sich auf. Er rannte zum Aufzug, schloss die Tür, noch bevor Cylie ihn erreichen konnte.
Cylie hämmerte an die Tür, schrie Kian an. Über ihr Gesicht rannten hemmungslos Tränen. Der Aufzug fuhr los, war in Sekunden im Erdgeschoss des Wohnturms.
Die Tür des Aufzugs öffnete sich. Draußen der wunderschöne, tödliche Sandsturm. Ihr dürft Kian nicht verurteilen. Er hatte zu viel durchgemacht. Zu viel, als dass ein Mensch es aushalten konnte.
Der gerade einmal siebzehnjährige Junge verdrängte seine Tränen. Presste die Lippen zusammen. Schloss die Augen. Ich finde, er war so viel mutiger als alle Helden der Welt zusammen.
Und dann trat er aus der Tür. Ohne Furcht. Trat in den Sturm, spürte die Partikel, den Staub auf seiner Haut. Er öffnete den Mund, nahm einen letzten Atemzug.
Und der Sandsturm verschlang ihn.
Niklasatw
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Other Worlds / Science-Fiction-ShortStories
Science FictionEine Sammlung des Literaturblogs FictionFever. Sie enthält ScienceFiction-ShortStories