𝒐𝒏𝒆

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Der Wind verblies den Rauch seiner Zigarre, als er sich an die Reling lehnte, seine Augen mit einer Hand vor der grellen Sonne schützend, die sich an den Wellenkämmen brach und sie funkeln ließ. 

So sehr, dass es ihm in den Augen wehtat, wenn er zu lange hinsah. Das hellblaue Wasser leuchtete, als wären ganze Kisten voller Diamanten von einem jungen, unerfahrenen Matrosen aus Versehen dorthinein gekippt worden.

Er seufzte, als er versuchsweise einer der Rauchschlieren hinter her sehen wollte, aber sie schon nach nicht einmal einer Sekunde vom Wind in alle Himmelrichtungen zerstreut wurde. Der Bug des Schiffes schnitt durch das schier unendliche Blau.

Einfach nur Blau. Dasselbe Blau, mit dem manchmal seine Augen verglichen wurden. Wobei ein Wirbel Grau in den seinen war, um die Pupille, wie das Meer an einem stürmischen Tag. 

Den Vergleich hatte er von der Lady aufgeschnappt. Und dann noch, dass er wie geschaffen für das hier sei, für das Meer. Er sei genauso aufbrausend wie das Meer, genauso stürmisch, genauso schwer unter Kontrolle zu halten. Vollendens verstanden hatte er es nie, auch wenn er erahnte, woran sie ihre Behauptungen feststeckte, wie die silberne Nadel ihres Huts. 

Soweit er von seinem aktuellen Platz aus sehen konnte aber (was zugegebenermaßen nicht besonders weit war), war das Meer am heutigen Tag einfach nur blaue Leere. Die Lippen zusammenkneifend, schmeckte er das Salz und fühlte, wie der Seewind ihm durch die aschblonden Strähnen fuhr. Er legte den Kopf in den Nacken, die Zigarre immer noch zwischen zwei Fingern, als er einen weiteren Zug nahm. 

Er hatte wirklich keinen Grund zu klagen. Aber in seinen Fingern, ja, nicht nur da, in jeder verdammten Zelle seines Körpers konnte er die Langweile spüren. Es war allerdings kein wirkliches Gefühl, eher mehr wie ein penetrantes Jucken, ein Zusammenzucken, das ihn von Zeit zu Zeit aus dem unruhigen Schlaf fahren ließ, den man an Bord eines Segelschiffes bekam.

 Und diese Langweile war damit zurechtfertigen, dass sie seit nun knapp mehr als drei Wochen durch absolute Einöde segelten. Solange waren sie noch nie unterwegs gewesen, ohne einem anderen Schiff zu begegnen. Und langsam fragte er sich, manchmal, spät abends, ob jeder Kompass versagt hatte und sie seit über zwei Wochen im selben elendigen Kreis krochen, wie eine altersschwache Schnecke und blind für ihr eigenes menschliches Versagen. Aber das war es nicht und er wusste es auch. 

Manchmal gab es Durststrecken in ihrem Leben und manchmal waren die Vorräte knapp, aber die Lady schaffte es trotzdem jedes Mal, noch etwas zu fabrizieren, das einigermaßen schmackhaft war. Und wenn das nicht mehr machbar war, dann zumindest etwas, was das Loch im Magen stopfte und den Hunger weniger unaushaltbar machte. Nun, das war dieses Mal noch nicht der Fall.

 Im Gegenteil.

 Das letzte Schiff war für eine weitaus längere Reise ausgestattet gewesen. Außerdem bevorzugte er es, die Mannschaft klein und eng beisammen zu halten. Zehn Leute, die sich in und auswendig kannten, die den Schachzug des anderen an einer Veränderung des Gesichtsausdrucks erkennen konnten, waren effektiver als 30 Mann, die keinerlei Ahnung von ihren Waffen oder einander hatten. 

Aber auch in ihren Gesichtern konnte er die Langweile erkennen. Nicht, dass sie es jemals gesagt hätten. Aber er sah es daran, wie die Lady manchmal aus reiner Gewohnheit ihr Messer aus ihrem Gürtel hervorzog und es zwischen ihren Fingern hindurchwirbeln ließ, wie die Klinge im Licht der untergehenden Sonne blitze.

 Er sah es daran, wie Mesrekos jeden Abend mit einer hochgezogenen Augenbraue fragte, was man heute aus dem Mastkorb gesehen hätte. Er sah, wie er versuchte, es beiläufig zu sagen, so als ob es ihm vollkommen egal wäre.

 Er nahm einen weiteren Zug von der Zigarre, ehe er seinen Blick über das Deck wandern ließ. Das dunkle Holz war wettergeerbt und um den Mast waren noch lose Stricke gewickelt. Vermutlich, weil die Lady sie geknüpft hatte und niemand außer ihr selbst ihre Knoten wieder auftrennen konnte. 

Mesrekos saß auf einer Kiste und tüftelte weiter an einer Metallkonstruktion, die ihnen endlich Abhilfe gegen die Mäuse verschaffen sollte, wobei ihm seine roten Locken ständig ins Gesicht rutschten. Ihr Schiffskater hatte den letzten Beutezug nicht überstanden. 

Bosfio, etwa zwanzig Jahre alt, stand am Bug des Schiffes und starrte in die Ferne, an seiner Seite hing ein Fernglas. Der Wind peitschte ihm durch die kurzen haselnussbraunen Haare. 

Jaof saß an den Mast gelehnt und flickte ein altes, bereits rissiges Ersatzsegel. Es war beinahe gespenstisch ruhig auf dem Schiff. 

Etwas, das ungewöhnlich war, wenn man bedachte, was sie waren. Der Volksmund nannte sie Piraten. Er unterdrückte ein Schnauben. 

Piraten. 

Hässliches Wort. 

Ja, geradezu primitiv klang es. 

Sie hätten ein klangvolleres Wort verdient.

 Etwas, das von den durchwachten Nächten erzählte. Etwas, das von den Sekunden, Minuten, Stunden erzählte, die mit dem Adrenalin eines Kampfes gefüllt waren. Etwas königliches hätte er angebracht gefunden. 

Denn wer war König, wenn nicht er?

 Wer, wenn nicht er, auf einem Schiff mit der kampferprobtesten und besten Mannschaft, um die er hätte bitten können? Wer, wenn nicht er, wie er des Nachts oben im Mastkorb stand, sich die salzige Seeluft um die Nase wehen ließ? Wer, wenn nicht er, wenn ihm doch alles auf dieser Welt gehörte, was er nur wollen könnte, weil alles nur einen Handgriff, einen Beutezug entfernt war?

 Ja... Wer war König, wenn nicht er?

„Moran!", ihre Stimme schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. (Gedanken, von denen er fand, sie hätte zu Papier gebracht werden müssen) Er blickte auf, als er ihre Schuhe auf den Planken hörte.

 Sie erkannte er sofort an ihren Schritten, egal um welche Tages- und Nachtzeit. Was daran lag, dass ihre Schuhe Absätze hatten. Schwarze, keilförmige Absätze. Und er hätte lügen müssen, hätte er behauptet, dass er sie nicht angsteinflößend fand. Aber das hätte er wohl jede Person gefunden, die so geschickt mit einem Messer und Seilen umgehen konnte. Dass sie das alles in eleganten Schuhen bewältigte, war da nur noch ein weiterer, positiver Beigeschmack. 

Lady Adler sprang den letzten Meter des Masts hinunter, als wäre es nichts. Auf ihren sonst so eleganten Gesichtszügen stand jetzt ein breites Lächeln. Aber kein freundliches. Im Gegenteil. Ein hämisches, eines, das ihm Schauer über den Rücken gejagt hätte, wenn es an ihn gerichtet gewesen wäre. 

Sie fuhr sich durch ihre dunklen Locken, rückte den dunkelroten Hut darauf zurecht und stellte sicher, dass die Nadel noch saß, dann sah sie auf zu ihm. In ihren Augen stand eine diebische Vorfreude, ihre Wangen waren gerötet, ihre Brust hob und senkte sich heftig unter ihrer weißen Schnürbluse.

„Schiff voraus. Backbord, Captain."

Er kniff die Augen zusammen.

„Was für eine Art von Schiff? Genauer, damit kann ich nicht arbeiten, Adler."

„Feindlich, aber unbekannt, Captain."

„Mit welcher Begründung feindlich?"

„Meiner Langweile."

Er zog eine Augenbraue hoch, bevor er die zu Ende gerauchte Zigarre über Bord fallen ließ.

„Weitere Informationen?"

Sie lachte, ein schriller, heller Ton, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Langsam begann auch der Rest der Mannschaft, sich um sie zu versammeln. Wenn die Lady herunterkam, dann gab es Neuigkeiten. Und sie alle hatten noch nie so dringen auf eben diese gehofft, wie jetzt gerade.

„Neun auf dem Deck, insgesamt wahrscheinlich mehr. Ziemlich nah, keine Halbe Meile mehr. Schmuck geladen und bis unter die Zähne bewaffnet. Interesse, Captain?"

Dasselbe teuflische Lächeln, das bereits auf ihren Lippen stand, schlich sich jetzt auch auf seine und er konnte sehen, wie auch die Augen der anderen zu funkeln begannen, wie Bosfio seinen Revolver aus seinem Gürtel zog und den Lauf überprüfte.

„Gottverdammt, ja. Volle Kraft voraus!"

surrender or dieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt