Kapitel 1

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„Wir treffen und am Montag um 8:15 Uhr hier im Klassenzimmer. Habt ihr noch Fragen?“ kaum hatte Herr Meyer seinen  Satz beendet, meldeten sich viele der Schüler der Klasse 7c. Geduldig wurden alle Fragen beantwortet, bis es zum Schulschluss läutete und alle ihre Sachen packten um möglichst schnell aus der Schule zu kommen, nur eine trödelte. Johanna. Sie hatte es nicht eilig. Was sollte sie an einem Freitag Nachmittag auch machen? Soziale Kontakte pflegen? Nein Danke! Allein beim Gedanken raus zu gehen und sich unter Leute zu mischen ließ sie sich unwohl fühlen. Vermutlich würde sie im Bett liegen, oder ihre Tasche für die Klassenfahrt packen, auf die sie keinerlei Lust hatte. Einerseits war sie eine ganze Woche lang weg von zu Hause, mit ihren Klassenkameraden, sie würden zusammen segeln lernen, das klang gut, andererseits könnte jemand ihr Geheimnis erfahren und sie durfte ihr Handy nicht mitnehmen, das war weniger gut. Vor allem ihr Handy würde sie sehr vermissen, nicht weil sie süchtig war, sondern da es sie ablenkte und abschottete, von der wirklichen, grausamen und skrupellosen Welt. „Johanna, beeilst du dich bitte? Ich habe auch Wochenende!“ riss die laute Stimme ihres Lehrers sie aus ihren Gedanken. Erschrocken fuhr die Schülerin hoch, rappelte sich auf und eilte zur Tür. „Entschuldigung, es tut mir leid.“ Murmelte sie zerknirscht und trat auf den Gang, der wie ausgestorben vor ihr lag. Kurz schaute sie zurück, ging dann aber langsam zum Ausgang. Als sie aus der Schule heraus ins Freie trat, musste sie ihre Augen kurz zusammenkneifen, da das Sonnenlicht sie blendete, mit einem Schnauben kommentierte sie das Wetter und lief gemächlich zur U-Bahn, während sie in der Jackentasche nach ihren Kopfhörern suchte, doch diese waren nicht da. Panisch tastete die Schülerin ihre Hosentaschen ab und fand sie schließlich auch. Erleichtert wollte sie die Geräte einschalten, musste jedoch feststellen, dass die Batterien leer waren. Frustriert stopfte sie die Kopfhörer zurück und lief die Rolltreppe hinunter. 3 Minuten, dann würde ihre U Bahn kommen und davor noch eine. Johanna ging direkt neben dem weißen Streife weiter nach vorne, bis sie stehen blieb. Sie könnte einfach runterspringen. Es ist so einfach… Wer brauchte sie schon? Sie war doch sowieso nur eine Belastung für alle. Wen würde es interessieren, wenn sie jetzt sterben würde? Ein Schritt und es wäre alles vorbei. Es ist so einfach… „Hallo, Johanna!“ Rief eine laute Stimme und ein Arm legte sich um sie. „Anna? Bist du es?“ Fragte die Angesprochene verwundert und wirbelte zu ihr herum. Tatsächlich stand vor ihr ihre  Beste Freundin, die sie seit langer Zeit nicht mehr gesehen hatte. „Ne, ich bin der Weihnachtsmann!“ Antwortete diese sarkastisch und umarmte ihre Freundin. „Was machst du hier? Hast du schon Ferien?“ hackte Johanna nach und Anna musste lachen. „Das wäre schön, aber leider nicht. Ich besuche eine Freundin,“ erklärte sie dann und grinste. „Gut siehst du aus, wie geht es dir? Mir geht es momentan super, ich habe neue Freunde, in der Schule läuft alles super und ich vermisse nichts an München?“ Ein kurzer Stich in ihr Herz ließ Johanna zusammenzucken. Sie vermisste nichts an München, auch sie nicht? War sie ihr egal? Hätte sie was anders machen sollen? Ihr irgendwie häufiger schreiben sollen? Aber andererseits, sie war ihre Freundin, es freute sie, dass sie so gut angekommen war. Ein Umzug und ein Schulwechsel ist nie etwas leichtes. Also war es doch gut, dass Anna so schnell Anschluss gefunden hatte und es ihr gut ging. „Mir geht es auch gut. Ich bin auf dem Weg nach Hause. Viel Spaß dir bei deiner Freundin.“ Murmelte sie und lächelte leicht. „Danke! Weißt du, als ich weggezogen bin, dachte ich, dass ich dich total vermissen würde, aber irgendwie tu ich das überhaupt nicht. Lustig oder?“ antwortete Anna und lachte auf. Ein bitterer Schmerz stieg in  Johanna auf. Wie lange waren sie schon befreundet? Wie oft hatten sie sich gegenseitig geholfen? Wie oft einander wieder aufgebaut, wenn jemand sie zerstört hatte? Und nun hatte ihre Beste Freundin sie einfach so vergessen? Es war ihr egal gewesen? Sie hatte sie nicht mal vermisst! Warum? Sie wusste genau, dass sie sich so einsam und verloren gefühlt hatte, als ihre Freundin gegangen war. Nächtelang hatte sie geweint und wollte ihr schreiben, hatte es dann aber unterlassen. Blanke Wut machte sich in ihr breit, vermischt mit Trauer, Einsamkeit und Verzweiflung. „Freut mich für dich!“ würgte sie hervor, obwohl sie merkte, wie es in ihr brodelt und ihr Tränen in die Augen schossen. „Ich muss weiter nach vorne. Sorry.“ Murmelte sie und lief eilig weg. Wie sehr hatte sie sich gerade noch gefreut Anna zu sehen und nun das. Mit den Tränen kämpfend stand sie da und rang um Fassung. Ihre Freundin durfte sie nicht weinen sehen, niemand durfte sie weinend sehen. Sie wollte nicht schwach wirken. Das altbekannte Gefühl, als ob sie nicht atmen könnte machte sich in ihr breit und ließ das Mädchen schlucken, während sie versuchte ihre Tränen wegzublinzeln. Doch einige schafften es dennoch, langsam und warm rollten sie aus den Augenwinkeln hinaus, langsam über die Backe, bis sie kalt am Kinn hängen blieben. Trotzig wischte die Schülerin diese weg und zog ihr Handy hervor. Hauptsache , sie wirkte jetzt beschäftigt, damit niemand Verdacht schöpfen würde. Doch, entgegen ihrer Vermutung, hatte ihr tatsächlich jemand geschrieben. Es war Cara. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, sie mochte das Mädchen wirklich, mit ihr hatte sie sich in Sport angefreundet, doch als sie den Chat öffnete, sah sie, dass die Nachricht gelöscht worden war. Enttäuscht schrieb sie ihr kurz, dass sie auf Klassenfahrt gehen würde und sie es kaum erwarten könnte. Dies war zwar gelogen, aber sie log seit Jahren und niemand hatte es herausgefunden. Jeden Tag. In jeder Minute, bevor die Nacht hinein brach. Doch niemand hatte es jemals bemerkt. Niemand. Weder ihre Eltern, noch Geschwister, Freunde oder gar Lehrer. Kurz sah sie auf, da ihre U-Bahn gekommen war, also stieg sie ein, setzte sich auf einen Platz und fuhr zum Stachus, wo sie zu den S-Bahnen lief. Da ihre Bahn erst in zehn Minuten kommen würde, stellte sie sich an den Rand, zog ihr Handy wieder heraus und schrieb eine Geschichte weiter, die sie erst vor wenigen Monaten begonnen hatte. Es ging um ein Mädchen, welches es in ihrem Leben auch nicht leicht hatte, so wie sie selbst. Sie war in der Schule nicht gut, ist gerade durchgefallen, in eine neue Klasse gewechselt, muss aber die Schule wechseln, weil ihre Noten zu schlecht sind. Da Johanna sich gut mit dem Charakter identifizieren konnte, machte es ihr viel Spaß die Geschichte zu schreiben. Doch schon bald fiel ihr wieder ein, dass diese Geschichte, im Gegensatz zu ihrem Leben, ein schönes Ende haben wird. Wenn sie doch nur wüsste, ob es sich überhaupt lohnte zu kämpfen. Nur ein kurzer Blick in die Zukunft, nur ein ganz kurzer und sie wüsste es. Was, wenn es reine Zeitverschwendung war gegen ihre Probleme anzukämpfen? Wie oft hatte sie schon aufgeben wollen? Wie oft stand sie schon an den Gleisen und wollte springen, oder auf dem Fensterbrett? Wie oft hatte sie schon mit dem Gedanken gespielt sich die Pulsader aufzuschneiden, oder zu viele Schlaftabletten zu nehmen? Und wie oft hatte ihr Unterbewusstsein sie davon abgehalten? Wie lange hielt sie diese Hölle, die man Leben nennt noch aus? War es so weit, könnte sie niemand mehr retten! Niemand! Aber sie wollte auch nicht, dass ihre Eltern sich den Vorwurf machen konnten, dass es ihre Schuld war. Deswegen konnte sie sich nicht zu Hause umbringen und in der Schule waren zu viele Menschen, die sie traumatisieren könnte. Aber uf der Klassenfahrt… Da könnten ihre Eltern sich keinen Vorwurf machen… Aber ihren Lehrern Probleme machen, dass war auch nicht ihr Ziel. Diese hätten ja die Aufsichtspflicht. Frustriert seufzte die Schülerin leise und schnaubte. Egal wie sie es drehte und wendete, es kam keine gute Lösung heraus. „Auf Gleis 2 fährt ein die S2 nach Altomünster!“ erklang die leiernde Stimme der Ansage und Johanna beugte sich vor um die Lichter der Bahn zu sehen, die immer näher kamen. Sie atmete die schlecht riechende Luft tief ein und wieder aus, um mögliche Suizidgedanken vorzubeugen. Während der Zug an ihr vorbei fuhr suchte sie nach freien Plätzen, doch es gab keine mehr. Sofort verschlechterte sich ihre Laune wieder und mit einem finsteren Gesichtsausdruck stieg sie ein.

The enemy in meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt