~Erinnerungen im dunkeln~

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Es kracht.
Die Bahn wackelt.
Nein, sie kippt.

Mehr Geräusche.
Sirenen, Lichter, Schreie.
Von ganz weit her, wie in Watte gepackt, höre ich eine Stimme. ,,Ihr Puls ist niedrig aber noch vorhanden." Eine weitere Stimme ,,Wie kann das Mädchen noch leben?" Das Mädchen? Bin ich gemeint? Ich... was ist mit mir los? Wie kann ich was? Noch leben? Ich bin doch garnicht verletzt.
Schmerzen überkommen mich. Vielleicht bin ich doch verletzt. Aber nicht stark. Nur ein bisschen. Bitte sag mir, dass es nur ein bisschen ist.
Mit all meiner Kraft versuche ich einen Finger zu heben. Ich versuche es immer und immer wieder, doch es passiert nichts.

Stille.
Eine unfassbar schwere Stille.
Es ist dunkel.
Und kalt.
Und so schön angenehm.
Die Dunkelheit verschluckt mich.
Etwas zieht mich nach unten. Es ist als würden Hände meinen Körper weiter in die Dunkelheit, die Tiefe ziehen. Fast lasse ich das zu. Aber nur fast.
Meine Gedanken sind langsam und wirr. Ich kann keinen einzelnen von ihnen erfassen und entwirren. Es ist als würden sie zwischen meinen Fingern zerrinnen wenn ich nach ihnen greifen möchte. Doch dann kommt eine Erinnerung hinauf. Am Anfang ist sie schwer zu erkennen und ich verstehe es nicht doch dann wird es klarer und ich höre die Stimmen wie als wäre ich noch dort.
Ich stehe etwas abseits und beobachte was sich vor mir ereignet. Diese Erinnerung ist nun zwei Jahre her. Ich sitze im Auto mit meiner Mutter. Unsere Wangen sind tränenüberströmt. Sie erzählt mir vom Tod meines Opas. Ich fange aus Wut an zu schreien. Sie hat mir grade erzählt das mein Bruder nicht traurig ist weil unser Opa gestorben ist. Ich konnte es nicht glauben und verstehen. Ich dachte es würde ihn nicht kümmern. Doch vielleicht war es so?
Die Szenerie wechselt. Es ist eine ganz alte Erinnerung. Ich war sechs oder sieben Jahre alt. Es ist ein trister Morgen. Nebel hängt dicht über dem Boden und einzelne Regentropfen fallen runter auf die matschige Erde. In unserer Einfahrt steht ein fremdes Auto. Es hat eine große Ladefläche. Mein Vater ist hinten im Garten und gräbt ein großes Loch. Warum tut er das wohl? Meine Mutter steht neben mir und weint. Ich weiß nicht was geschieht, also weine ich mit. Ich schaue verwirrt zwischen dem Auto, meinem Vater der ein Loch gräbt und meiner Mutter hin und her. Meine Mutter starrt wie betäubt auf das Auto. Langsam schaut sie auf mich runter. Sie fragt mich ob ich weiß was grade passiert doch ich schüttele nur den Kopf. Weitere Tränen fließen ihr übers Gesicht. Sie fängt and zu schluchzen. Ich frage sie was los ist, doch sie kann nicht aufhören zu weinen und schluchzen. Dann fragt sie mich ob ich weiß wer gestorben ist. Ich antworte ob sie Jesus meint. Sie fängt nur an noch mehr zu weinen und schüttelt den Kopf. Sie sagt nur den Namen von einem unserer Hunde. Ragna. Ich wusste noch nicht was es bedeutet wenn jemand stirbt. Doch als ich die offene Ladefläche des Autos bemerke und unsere reglose Hündin entdecke, fange auch ich an zu schluchzen. Einige Zeit später kommt mein Vater und legt meiner Mutter eine Hand auf die Schulter. Ein paar Minuten später legt mein Vater den toten Körper unserer Hündin in das Loch welches er gebuddelt hatte. Es war genau neben dem kleinen See den Ragna immer so liebte. And diesem Tag ging ich nicht in die Schule.
Die Szenerie ändert wieder. Ich bin jetzt fast sieben. Aber nur fast. Es ist ein Abend und es Gewittert. Doch nicht einmal der Donner kann das gestreite von Mama und Papa überdecken. Mir ist kalt und ich habe Angst also kuschele ich mich weiter in meine Decken. Nach einiger Zeit klettere ich aus dem Bett und gehe zu der großen Holztreppe, die ich mich noch nie getraut habe alleine runter zu gehen nachdem ich dort einmal ausgerutscht bin. Überall ist das Licht aus, außer unten in der Küche. Auf dem ganzen Weg bis zur Treppe höre ich das Geschrei von Mama und Papa immer lauter. Ich stehe an der Treppe und schaue nach unten. Plötzlich höre ich etwas zerbricht und zucke zusammen. Ich renne zurück in mein Zimmer und kuschele mich unter die Decke. Ich kneife die Augen zusammen und schlafe schließlich so ein.
Die Szene ändert sich erneut. Ich bin jetzt um die acht Jahre alt. Ich habe nun einen kleinen Bruder. Er ist drei Jahre alt. Meine Mutter ist mit meinem Bruder und mir ausgezogen. Papa ist nicht mehr bei uns. Es ist abends und wir haben die Lichterketten im Wohnzimmer angemacht. Das sanfte gelbe Licht und ein paar Kerzen sind die einzigen Lichtquellen die wir grade anhaben. Ich sitze auf dem Sofa und schreibe mit meinem Papa. Ich frage ihn wie es ihm und Mo, unserem anderen Hund, geht. Er sagt es geht ihm gut. Ich frage nicht weiter nach und scheine es nicht zu bemerken das er mir nichts zu Mo gesagt hat. Ein paar Tage später, wenn er mich und meinen Bruder wieder am Wochenende abholt, ist es ganz still die ganze Autofahrt lang. Als wir bei Papa zuhause ankommen höre ich nicht das vertraute bellen von Mo. Ich sehe ihn auch nirgends. Papa sagt nichts und führt mich in den Garten. Mo war mein bester Freund. Und mein einziger. Als wir im Garten ankommen steht dort ein Holzkreuz an Mo's Lieblingsplatz. Mein Vater erklärt mir das Mo tot ist. Ich starrte auf das Holzkreuz und dann auf zu meinem Vater. Er fragte mich warum ich nicht weine und ich antworte nur das wir, unsere Familie, nicht weint. Das hatte Papa mir einmal gesagt nachdem ich hingefallen bin. Mein Papa lässt mich nach ein paar Minuten des Schweigens und des starren auf das Holzkreuzes alleine. Ich falle auf meine Knie und schluchze und weine. Ich bleibe noch einige Zeit alleine im Regen und der Kälte sitzen.
Die Szene ändert sich erneut. Ich sitze in unserer Wohnung in der ich nun seit zwei Jahren mit Mama und meinem Kleinen Bruder wohne. Ich bin fast neun. Ich bin in meinem Zimmer und vor mir sitzt eine Frau. Wieder jemand der mit mir reden wollte. Man fragte mich ständig ob ich lieber bei meiner Mama oder bei meinem Papa wohnen wollte. Aber obwohl ich erst acht Jahre alt bin, wusste ich worum es ging, selbst wenn man mir das nie erzählt hatte. Meine Mama hatte vor ein paar Monaten einen neuen Freund bekommen. Es scheint als würden sie sich wirklich lieben. Das Problem war aber das er sehr weit weg wohnt. Sehr weit weg wohnt er. Mama möchte, dass wir mit ihr zu ihm ziehen. Doch ich war immer ein Papa-Kind. Und Papa lebt immer noch in meinem Zuhause. Ich habe es geliebt dort zu wohnen und wollte es noch immer. Doch ich wusste, dass mein Bruder bei meiner Mama bleiben würde. Und so sehr ich meinen Papa und mein Zuhause auch liebte, ich liebte meinen Bruder mehr. Und so sagte ich diesen Leuten auch, dass ich lieber bei meinem Bruder und somit bei meiner Mama wohnen würde. Das ganze ging dreizehn Monate lang doch dann wurde entschieden das ich mit meinem Bruder und meiner Mama zusammen zu ihrem Freund ziehen würde. Es machte mich traurig, doch zumindest hatte ich noch meinen Bruder.
Die Szene ändert sich erneut. Ich bin 14 und wohne seit sechs Jahren zusammen mit dem Freund meiner Mutter, meiner Mutter, meinem kleinen Bruder, der nun acht ist, und meinem anderen neuen kleinem Bruder, der drei ist, zusammen. Ich habe den Freund meiner Mutter am Anfang sehr gemocht doch dann stritten wir uns immer öfter. Und dann ignorierten wir beide uns für zwei Jahre. Zwei Jahre in denen ich mit vielen Problemen zu kämpfen hatte. Depressionen, Suizidgedanken und fast eine Essstörung. Es ist ein normaler Tag. Ich komme in die Küche zu meiner Mutter. Meine Wangen sind tränenüberströmt. Sie fragt mich und ich antworte ihr wie sehr es mich immer verletzt wenn sie sagt das ich meine kleinen Brüder nicht lieben würde. Ich erzähle ihr das, wenn einer meiner Brüder sterben würde, sie dann nicht nur eines sondern zwei ihrer Kinder verlieren würde. Das ich mich selbst auch umbringen würde. Ich weiß nicht was ich mir erhofft hatte doch es gab keine Reaktion meiner Mutter. And diesem Tag weinte ich mich wieder in den schlaf.
In allen meinen Erinnerungen die ich sah starb ein kleiner Teil von mir. Und in manchen starb auch ein wichtiger Teil aus meinem Leben.
Die Dunkelheit zerrt mich nach unten. Tiefer und tiefer. Ich möchte der Kraft, den vielen Händen die mich nach unten zerren, nachgeben. Doch es kommen wieder andere Erinnerungen.
Die Sonne scheint und es ist ein wunderschöner Tag. Ich lache mit meinen Brüdern. Wir spielen auf einer Wiese.
Eine neue Erinnerung. Ich bin zusammen mit meiner Oma auf dem Weihnachtsmarkt. Wir essen Crepes und trinken heiße Schokolade.
Ganz viele gute, glückliche Erinnerungen durchfluten mich.
Etwas in mir fängt an zu brennen. Nicht wie ein Feuer das Leben nimmt und nichts als Asche zurücklässt. Es ist eine andere Art von Feuer.
Es brennt in mir und erfüllt mich vollkommen. Es ist wie ein Antriebstoff. Es brennt in mir und vertreibt die Dunkelheit um mich herum.
Meine Gedanken werden wieder klarer.
Ich darf mich nicht in etwas dunkles hineinziehen lassen wenn es auch dieses helle, dieses Licht und Feuer gibt. Es gibt einen und viele andere Gründe um zu leben. Nicht um zu überleben sondern um zu leben. All diese Freude und die Dinge die ich liebe sind jeden Kampf wert.
Und so kämpfe ich.

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⏰ Letzte Aktualisierung: 2 days ago ⏰

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