Der Schnüffler (KG/de)

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Kurzgeschichte
Sprache: deutsch
Geschrieben für den Ideenzauber-Wettbewerb 2021

Der Schnüffler

Natürlich wusste ich, woran es lag, als plötzlich Worte in meinem Roman auftauchten, die ich nicht selbst geschrieben hatte. Nicht sofort, selbstverständlich. Für eine deutlich längere Zeit, als ich vor anderen zugeben würde, war ich felsenfest davon überzeugt, mein Kurzzeitgedächtnis verloren zu haben. Dann stellte ich jedoch fest, dass ich mich zwar nicht daran erinnern konnte, die letzten Korrekturen in meinem Buch gemacht zu haben, allerdings noch ziemlich gut in Erinnerung hatte, wie grandios gut die Nudeln in der Mensa heute Mittag gewesen waren. Ich wusste auch noch, dass mein Physikprofessor uns ein neues Experiment aufgegeben hatte, auf das ich keine Lust hatte. Und leider hatte ich sogar nicht mal vergessen, wie meine Mitbewohnerin und beste Freundin Elisa mir viel zu detailliert von ihrem Date gestern Abend erzählt hatte.

Kurzum: nach etwa vier Stunden wilden Überlegungen, dass ich mein Gedächtnis verloren oder eine zweite Persönlichkeit entwickelt haben könnte, kam ich zu dem logischen Schluss, dass die Ergänzungen nicht von mir waren.

Aber Helen, denkt ihr euch jetzt vielleicht, das würde ja bedeuten, dass jemand deinen Laptop gehackt hätte. – Nun, nicht unbedingt. Ich gehöre nämlich zu diesen Menschen, denen immer spontan etwas einfällt, was prima in meinen Roman passen würde. Und ich gehöre ebenfalls zu diesen Menschen, die ihren Laptop meist zuhause lassen. Das hat zweierlei Gründe: erstens, mein Laptop ist steinalt, sehr langsam und echt schwer. Zweitens, ich studiere Maschinenbau, da schreibt niemand am Laptop mit. Warum nicht, fragst du dich? Nun, du kannst ja mal überlegen, wie lange du brauchst, um eine Formel in Word einzufügen.

Wie auch immer, ich habe meinen Laptop nur selten dabei, allerdings fällt mir regelmäßig spontan eine richtig gute Szene ein, die ich unbedingt schreiben muss. Deshalb – und jetzt kommt der springende Punkt – habe ich meinen Roman in einem Webdokument, an dem ich von überall herumkorrigieren kann. (Außer als ich letztes Jahr im Urlaub in London war, weil man, wie ich auf die harte Tour gelernt habe, aus irgendwelchen Gründen in Großbritannien die Seite gesperrt ist – war sehr frustrierend.)

Zum Glück studiere ich ja aber nicht in London, also kann ich aus der Uni prima auf mein Dokument zugreifen. Was ich auch regelmäßig tue. Und jetzt ratet mal, wer gestern Mittag wie von der Tarantel gestochen vom Bibliothekscomputer aufgesprungen ist, weil er vergessen hatte, dass das Matheseminar schon um 13:00 Uhr und nicht erst um 13:30 anfängt. Und wer dabei möglicherweise vergessen hat, sich aus eben diesem Webdokument auszuloggen. Jaaa...

Also, Zusammenfassung: Ich bin ein Idiot und habe mein Dokument offen auf einem PC in der Bibliothek gelassen. Aber wer auch immer nach mir kam, ist ein noch viel größerer Idiot, denn er hat geschnüffelt, anstatt einfach brav zu speichern und dann das Fenster zu schließen, wie man es unter höflichen Studenten tut. Denn sein wir ehrlich, wir sind Studenten: wenn wir in der Bibliothek sind, sind wir entweder übermüdet, verkatert, verzweifelt oder eine Kombination aus allen dreien – was glaubst du, wie oft es passiert, dass da jemand vergisst, sich irgendwo auszuloggen? Himmel, ich habe schon diverse fremde Simulationen, Projekte, Exceldateien oder Bachelorarbeiten gespeichert und dann geschlossen!

Wer immer nach mir kam, hat offensichtlich den Code einer Unibibliothek noch nicht verstanden, denn er hat mein offenes Dokument gefunden und nicht genug damit, dass er angefangen hat, meinen Roman zu lesen: nein, er maßt sich auch noch an, darin herum zu pfuschen, der Schnüffler.

Naja, denke ich mir, nachdem meine Empörung etwas verflogen ist, als ich mich zuhause vor meinen Opa-Laptop setze und mir das letzte halbe Kapitel nochmal durchlese, um wieder reinzukommen. Dann habe ich jetzt eben ein paar kostenlose Verbesserungsvorschläge. Wie mir scheint, wurden ein paar Rechtschreibfehler korrigiert und einige Formulierungen geändert. Mir solls recht sein. Immerhin werden abends die Computer der Bib runtergefahren. Ich laufe also nicht in Gefahr, weitere Mitleser zu haben, solange ich in Zukunft vorsichtiger bin.

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