Die Geschwindigkeit von Licht (KG/de)

173 16 4
                                    

Kurzgeschichte
Sprache: deutsch
Geschrieben für den Ideenzauber-Wettbewerb 2022

Die Geschwindigkeit von Licht

Der Mond stand hoch über der Stadt, eine schmale Sichel gegen die Dunkelheit und man hätte ihn im klaren Nachthimmel wunderbar sehen können, wären da nicht die schwarzen Rauchwolken gewesen, die davor hingen.

Ani saß auf dem Gras und starrte in den Himmel, direkt nach oben. Mira wusste nicht, ob er es tat, um den Anblick zu genießen oder um nicht hinschauen zu müssen, wie es um sie herum aussah. Vor drei Wochen noch war die Stadt mit Leben gefüllt gewesen, mit schreienden Markthändlern, mit spielenden Kindern und naseweisen Teenagern wie sie selbst, die nach der Schule um die Häuser zogen. Jetzt stand die Welt in Schutt und Asche - Mira wollte nicht wissen, wie es in ihrer Straße aussah, denn solange sie es nicht gesehen hatte, konnte sie sich noch einreden, dass sie wie durch ein Wunder verschont geblieben war, dass die Häuser noch standen und die Gärten noch blühten und das Leben wieder so werden würde wie vor dem Tag, an dem zum ersten Mal die Sirenen geheult hatten.

Sie sah zu ihrem Bruder, der immer noch auf dem kleinen Hügel saß und in den Himmel sah. Vielleicht betete er auch, wer wusste das schon so genau.

Viel Zeit würden sie vermutlich nicht haben. Es war seit Tagen das erste Mal, dass sie frische Luft atmeten – auch wenn sie beißend nach Feuer roch, dessen dicke Rauchschwaden immer noch von der alten Fabrik herübergeweht wurden, die die Feuerwehrleute verzweifelt zu löschen versuchten. Jetzt gaben sich die Erwachsenen Mühe, möglichst viele Lebensmittel und Hygieneartikel zurück in die Bunker zu bringen. Man wusste ja nicht, wie lange man das nächste Mal dort festsitzen würde.

Es hatte Gerüchte gegeben, dass es Busse geben sollte, die sie fortbringen würden. Deshalb waren sie überhaupt draußen, mitten in der Nacht. Aber von ihnen fehlte bisher jede Spur und wenn man den Frauen glaubte, die redeten, dann würden sie auch nicht kommen. Der Waffenstillstand war gescheitert, verkündete das einzelne kleine Radio, was noch lief und an das sich die alte Janna klammerte wie an einen Rettungsring. Die Stromversorgung war gekappt, die Telefonverbindungen lange schon tot. Mira horchte trotzdem die ganze Zeit, als könnte jeden Moment irgendwo eines klingeln und ihr verraten, was aus ihren Eltern geworden war, die irgendwo an einer Front kämpften – eine Krankenschwester und ein Bäcker, jetzt Soldaten. Es blieben Mira und Ani und die Nachbarn, Bekannten und völlig Fremden, mit denen sie auf einmal Rücken an Rücken schliefen. Mira musterte ihren Bruder. Sie war vierzehn, er ein Jahr jünger. Trotz des geringen Altersunterschiedes konnte sie nicht sagen, dass sie vorher besonders viel miteinander zu tun gehabt hatten. Er fand sie nervig, sie fand ihn anstrengend, wie Geschwister das eben so taten. Sie war sich nicht sicher, wann sie das letzte Mal ein wirkliches Gespräch mit ihm geführt hatte. Jetzt setzte sie sich zu ihm.

„Ist das ein zunehmender oder ein abnehmender Mond?", fragte sie, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander gesessen hatten.

Ani wusste das sicher, er hatte schon immer ein Interesse am Nachthimmel gehabt. Zuhause hatte er sogar ein kleines Teleskop. Mira hoffte, dass es noch heil war, wenn sie zurückkommen würden. Ihre Lieblingsschuhe standen auch immer noch neben ihrem Bett. Vor ihrem Bücherregal, mit all den Romanen, die sie dann ganz bestimmt lesen würde und dem Foto, dass sie letztes Jahr auf dem Jahrmarkt mit ihren Freundinnen in einer dieser Fotoboxen gemacht hatte, auf dem Iza so witzig schaute.

„Ein abnehmender", sagte Ani. „Neumond ist in zwei oder drei Tagen."

„Und dann wird er wieder voller", sagte sie. Er sah sie nicht an. Stattdessen glitt sein Blick hinüber zu den ersten Sternen, die dem Rauch zum Trotz zu funkeln begannen.

Wieder war es kurz still, dann deutete er nach oben.

„Siehst du die Sterne da oben? Die so ein Kreuz bilden?"

Kleinkram - Kurzgeschichten und OneShotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt