1. Kapitel

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Ein Schrei ertönt.
Ich öffne panisch die Augen. Was hatte ich nur getan?
Unruhig sehe ich mich im Zimmer um. Alles ist wie immer. Das war sicher wieder dieser Traum, den ich ständig habe.
Die Uhr zeigt acht Uhr an. Zeit aufzustehen.
Mit müden Gliedern stehe ich auf und streife mir einen Pullover über. Anschließend gehe ich ins Bad. Im Spiegel sehen mich meine kalten, einsamen blauen Augen an. Früher wirkten sie liebevoll und glänzend, doch das ist schon lange nicht mehr so. Mit meiner Hand streife ich mir durch meine Haare, die ich mir schwarz färben ließ, seitdem sich mein Leben an diesem einen Tag verändert hat. Es war der Tag, an dem mir jemand sagte, was mein Name bedeutete. Dieser Tag geschah am Freitag, dem 13. Welche Ironie. Es ist zwar schon einige Jahre her und doch kann ich mich genau daran erinnern.
Meine Mutter ruft zum Frühstück also gehe ich neue Treppe hinunter. Am Tisch sitzt meine sechsköpfige Familie. Ich habe vier Geschwister. Ich bin genau die Mitte von uns fünf Kindern. Meine beiden älteren Geschwister sind Zwillinge. Sie haben normale Namen: Max und Maxi. Danach komme ich mit meinem Name Lucifer, den ich meinen Eltern niemals verzeihen werde. Nach mir kommt die dreijährige Erdi-Lee. Wie auch immer meine Eltern darauf gekommen sind...
Ich setze mich neben Mama und murmle ein „Guten Morgen". Niemand reagiert. Wie immer. Mein Vater sieht mich böse an. Er wird mir wohl niemals verzeihen, was ich getan habe und ich kann es ihm nicht mal übel nehmen. Immerhin habe ich das mit Abstand schlimmste getan, was ein Sohn seinem Vater antun kann.

Nach dem Frühstück muss ich nach dem Neugeborenen sehen. Sie ist gerade mal zwei Monate alt. Ihren Namen kann ich zu meiner Schande nicht aussprechen. Es heißt Aadesh Shrivastava. Ich nenne sie immer nur bei dem Spitzname Shiri, den ich mir für sie ausgedacht habe.
Sie fängt mal wieder an zu weinen sobald ich den Raum betrete. Das ist wahrscheinlich meine Ausstrahlung oder so. Ich bin es mittlerweile gewohnt und es macht mir nix mehr aus. Zumindest rede ich mir das ein. Nachdem ich sie angezogen habe bringe ich sie meiner Mutter zum Stillen. Wie immer sagt diese kein Wort. Kein danke, keine Anerkennung, nichts. Auch das macht mir nichts aus. Ich habe mich bereits daran gewöhnt alleine zu sein und mit mir selbst zurecht zu kommen. Auch diese Eigenschaft schiebe ich meinen Eltern in die Schuhe. Immerhin hat mir nie jemand gesagt, dass ich geliebt werde oder dass sie froh sind mich zu haben und stolz auf mich sind. Nie haben meine Eltern mir auch nur ein Lob ausgesprochen oder anerkennend auf meine Schulter geklopft, weil ich eine gute Leistung vollbracht habe. Ich hoffe nur, dass es meinen zwei kleinen Geschwistern nicht auch irgendwann so geht. Dann tun sie mir auf jeden Fall leid. Die Zwillinge haben es schließlich auch geschafft etwas aus sich zu machen. Maxi wird bald ein Auslandsjahr in Amerika machen und Max will bei einer IT-Firma anfangen zu arbeiten. Sie sind schon fast achtzehn und haben ihr Leben perfekt unter Kontrolle. Irgendwie haben das alle- nur ich nicht.
Was auch sehr seltsam ist, dass meine gesamte Familie rötliche oder blonde Haare hat- nur ich nicht. Früher waren meine Haare silbrig- grau, bis ich sie färben ließ. Ich bin also wirklich in allen Hinsichten ein Außenseiter. Nicht nur von meiner Familie, sondern auch in der Schule, im Klavierunterricht (meinem früheren Hobby) oder natürlich allgemein in der Gesellschaft.
Das wird mir mal wieder bewusst, als ich das Haus verlasse und die Straße runter laufe, um die Bahn zu schaffen, damit ich rechtzeitig zur Schule komme. Es regnet. Also setze ich meine Kapuze auf. Ich laufe durch die Massen. Die Musik, die aus den Kopfhörern unter meiner Kapuze kommt ist laut, genauso wie ich es am liebsten mag. Um mich herum sind mal wieder massig Leute unterwegs. Sie tragen bunte Kleidung. Pink, orange, grün, gelb, rot und was weiß ich noch. Hier ist alles bunt- nur ich nicht. Ich trage schwarz. Immer. Es verkörpert nicht nur meinen Charakter, sondern auch die Bedeutung meines Namens. Sollen sie mich doch alle verängstigt anstarren. Es interessiert mich längst nicht mehr. Ich verurteile sie doch auch nicht nur wegen ihrer Kleidung, obwohl ich jeden Grund dazu hätte. Aber sollen sie ruhig ihr Leben so fröhlich und lebensfroh leben. Das heißt ja noch lange nicht, dass ich auch so sein will. Das will ich nämlich definitiv nicht.

Die Bahn trifft am Bahnhof ein und ich muss mich beeilen, um sie mich einzuholen. Gerade rechtzeitig, bevor die Türen sich schließen schlüpfe ich hinein. Um mich herum verwunderte Blicke- wie immer. Ich nehme die Kapuze runter. Die Blicke sind nun nicht mehr verwundert, sondern eher verstört. In dieser Stadt war nun mal niemand Ausnahmen gewohnt, aber das hieß ja nicht, dass es keine gab.

Zehn Minuten später entfliehe ich diesen Blicken endlich, da ich die Station, an der meine Schule steht, erreicht habe. Ich renne durch den Regen, der immer stärker wird hindurch und komme mit dem Stundenklingeln im  Schulhaus an. Wie immer auf den letzten Drücker. Kurz bevor der verhasste Mathelehrer seinen dürren Körper durch die Tür schiebt, quetsche ich mich vor ihm ins Klassenzimmer. Er sieht mich genervt an, sagt aber nichts. Innerlich weiß ich, dass er mich mag, auch wenn er es nicht zeigt. Ich bin immerhin genauso anders, wie er. Er ist dürr und groß, nicht wie alle anderen in diesem Örtchen hier. Er trägt braune Kleidung und hat immer eine eckige Brille auf. Er passt einfach nicht in diese Gegend hier- genauso wenig wie ich und doch sind wir hier. Ich stelle mir immer vor, wie schwer es für ihn gewesen sein muss, eine Stelle an einer öffentlichen, modernen Schule zu bekommen. Hier musste alles perfekt sein. Wir waren hier ein Vorzeigeschild für die ganze Umgebung. Es wunderte mich immer wieder, wie ich es geschafft hatte hier angenommen zu werden. Aber ich wusste ja selbst, was meine Mutter für ein Drama gemacht hatte, als ich zum Einschulungsgespräch kommen sollte. Sie hatte mir eine hellblaue Latzhose gekauft. Nur für dieses zwanzigköpfige Gespräch. Meine Haare hatte sie ewig gebürstet, sodass sie wie angeklatscht aussahen. Ich musste mit grünen Turnschuhen und einer gelben Lederjacke erscheinen. Während des ganzen Gesprächs durfte ich- wir hatten es davor ewig geübt- nur Lächeln. Ich wurde angenommen und der größte Wunsch meiner Mutter wurde wahr. Ich wurde an der anerkanntesten Schule hier angenommen. Sie rief sofort sämtliche Verwandte an, um mit mir zu prahlen. Am ersten Schultag erschien ich, wie sonst auch immer in dunklen Klamotten. Die Lehrer hatten mich komplett irritiert angesehen und dich beim Direktor beschwert. Doch es half nichts, immerhin war die oberste Regel hier: „Wer einmal hier angenommen wird, ist für immer ein Teil der School of Science". Sie konnten sich also beschweren, aber geändert hat sich nichts. Wie würde es auch aussehen, wenn die berühmteste Schule des Landes einen Junge rausschmeissen würde, nur weil er dunkle Klamotten trug. Es waren ja schließlich alle hier für Toleranz und Vielfalt. Natürlich, dachte ich mir immer. Ehrlich gesagt war diese Gegend hier alles andere, als das. Doch selbstverständlich war das nur eine falsche Wahrnehmung, hatte mir Tante Liese erklärt, als ich sie darauf ansprach.
Meine Großmutter war vor einiger Zeit von hier weggezogen, genau aus dem Grund, weil sie anders war. Ich hatte nie wieder etwas von ihr gehört, obwohl ich sie so gemocht hatte. Sie war eine Frau gewesen, die Krimis und Horror geliebt hatte. Das passte hier nicht rein. Hier war ja alles wundervoll und super schön. Sie hatte die Menschen gewarnt, dass es irgendwann so nicht weiter gehen würde, doch niemand wollte ihr glauben. Die Menschen, die diese Absicht auf das Leben nicht akzeptierten brannten eines Nachts Großmutters Haus an und das war der Punkt, an dem sie dort von hier zog.
Ich hatte die ganze Nacht geweint und nicht verstanden, warum sie ging. Ich war ja noch so klein. Heute verstand ich ganz genau, warum sie diese Entscheidung getroffen hatte. Es ging mir ja nicht anders. Nur ließ ich mich so leicht nicht aus der Ruhe bringen. Insgeheim plante ich trotzdem, von hier wegzuziehen sobald ich volljährig wäre. Das tat meine Schwester Maxi ja auch. Und auch wenn sie es nicht zugehen wollte, machte sie das Auslandsjahr genau aus dem Grund, diese irren Menschen hier loszuwerden. Man könnte zwar denken, es sei nur ein Gerücht, aber diese Menschen hier sind wirklich verrückt.

Nach der Schule gehe ich, statt nach Hause zu gehen zum Fluss und setze mich ans Ufer. Es ist mein Lieblingsort. Hier ist es ruhig. Keine Menschen, keine Farben, nur das kühle Blau des Wassers und das Rauschen, das mich immer in Gedanken versinken lässt.
Ich denke mal wieder an die schlimmste Zeit meines Lebens, angefangen mit dem Tag, an dem mir diese schreckliche Bedeutung meines Namens bewusst wurde.
Es war eine furchtbare Zeit und doch hatte ich sie überwunden.

Lucifer ~Namen machen Leute ~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt