Geliebtes Eis

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Langsam schlich ich mich näher. Ich blinzelte und schob vorsichtig ein paar Blätter zur Seite. Da lag er vor mir, der wunderschöne, herabstürzende gefrorene Tod. Im Sommer schossen die Wassermassen die steile Felswand hinab, doch jetzt, im tiefsten Winter, verzierte eine kunstvolle Eisskulptur das Gestein. Der Wasserfall ging über in eine spiegelglatte Eisfläche. Nicht besonders dick, dennoch dick genug, um darauf Schlittschuh fahren zu können.

Genau das hatte ich vor. Ich streifte meine Winterstiefel von den Füßen und schlüpfte in die Schlittschuhe. Sollte ich es wagen? Noch nie hatte ich es versucht. Was wenn die ganzen Legenden Quatsch sind und nichts geschieht? Doch so gerne möchte ich sie wiedersehen. So gerne möchte ich ihre Hand in meiner spüren, ihre Stimme in meinen Ohren hören, ihr Gesicht wieder sehen.

Gerne denke ich an sie zurück, doch Trauer umschlingt mich stets, wenn ich mich zu lange an sie erinnere. Aber ich brauche sie, ich kann sie nicht vergessen, ich kann nicht ohne sie sein, noch nicht. Sie ging viel zu früh, lies mich viel zu früh alleine hier, alleine mit all den anderen Menschen.

Ich holte tief Luft. Nur ein kleiner Schritt, ein kurzer Versuch, ein Funken Hoffnung. Ich trat auf das Eis, silberweiße Kristalle schmiegten sich an meine Kufen. Vorsichtig stieß ich mich ab und fuhr eine kleine Runde, doch kein Glitzer erfüllte die Luft. Keine zauberhaften Schneeflocken fanden ihren Weg zu mir. All meine Erwartungen wurden von dem eisigen Wind hinfort getragen. Enttäuschung machte sich in mir breit, als auch nach weiteren Runden nichts geschah. Was machte ich den falsch?

Ich betrachtete das in der Sonne glitzernde, gefrorene Wasser und wischte mir eine Träne von der Wange. Die Eisskulptur betrachtete mich mit ihren wachsamen Augen und es schien so, als würde sie den Kopf schütteln. Hatte ich es nicht verdient sie nochmals zu sehen? War ich kein gutes Mädchen? „Verdammt, was willst du von mir?", schrie ich die gigantische gefrorene Wand vor mir an. Mit einem tiefen Grollen antwortete sie mir, doch ich verstand ihre Worte nicht.

Mit hängendem Kopf verließ ich das Eis und zog wieder meine Winterstiefel an. Die Schlittschuhe hängte ich mir lustlos über die Schulter und ging nach Hause. Dort warf ich das Bündel unter mein Bett, ich wollte es nicht mehr sehen. Ich wollte nicht mehr enttäuscht werden. Viel zu lange glaubte ich an dieses Märchen, doch ich sollte wohl endliche erwachsen werden. Ich sollte es vergessen.

Jeden Tag nach der Schule gingen sie hin, all die anderen Kinder. Sie liefen voll Vorfreude zu diesem Monster von Eis. Hatten sie die Hoffnung noch nicht aufgegeben? Es funktionierte doch nicht. Ich habe es doch selbst versucht und war gescheitert.

Jeden Tag fragten sie auch mich, ob ich den nicht mitkommen will. Jeden Tag lehnte ich ab. Ich konnte nicht mitgehen, ich wusste ja, dass es bei mir nicht klappte. Ich wusste, dass das Märchen nur ein Märchen war und auch der Glauben daran nichts ändern würde. Ich würde sie nie wiedersehen. Warum also hingehen und die anderen beobachten, wie sie es versuchen den Zauber wirken zu lassen.

Ich hatte nicht so viel Kraft, ständig enttäuscht zu werden. Lieber blieb ich zu Hause, weitab vom See und ließ die anderen daran scheitern.

„Hey, Drifa, willst du mitkommen? Wir gehen zum Wasserfall", fragte mich meine beste Freundin hoffnungsvoll. Doch sie wusste meine Antwort schon bevor ich sie gab, es war dieselbe wie immer.

„Versuch es doch einmal", ermutigte sie mich, „du wirst staunen, was alles möglich sein kann." Ich schüttelte nur den Kopf und drückte mich an ihr vorbei. Wenn sie doch nur wissen würde, dass ich es schon probiert hatte. Wenn sie nur wissen würde, dass ich keine Hoffnung mehr in dieses Wunder steckte. Wenn sie nur wissen würde, dass ich es aufgegeben hatte, sie jemals wiederzusehen.

Ich kam nach Hause und mein Vater lächelte traurig. So oft hatte er schon versucht mich zu ermutigen, mit ihnen zu gehen, mit all den Kindern zu diesem Wasserfall. Jedes Jahr um Weihnachten ging er sicher, dass mir meine Schlittschuhe noch passten. Doch ich brauchte sie nie. Nicht nach dem, was passiert war.

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