Das Mädchen des sechsten Sinnes

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In einem Wald fernab von allen Dörfern und Siedlungen lebten einst die sechs Sinne. Sie waren Brüder, jedoch waren sie einander verfeindet und versuchten stets ihre Geschwister auszustechen, um der Bessere zu sein. Doch sie veranstalteten keine Turniere oder andere Wettkämpfe, um den Besten unter sich zu küren. Sie ließen die Menschen entscheiden.

In ihrer Höhle befand sich ein großer Steinkreis, der in sechs Abschnitte gegliedert war, jeder für einen der Sinne. Kugeln in den Farben schwarz und weiß lagen darin verteilt und bewegten sich stets zu den Abschnitten. Weiße für die Sinne, die verwendet wurden und schwarze für die, welche verschwendet wurden. So kamen die sechs Sinne jeden Tag zusammen und verglichen ihre Kugeln.

Doch da der Sinn des Sehens jedes Mal gewann, wurde es für die anderen sehr deprimierend. Vor allem für den sechsten Sinn, den Sinn des Bauchgefühls, welcher immer wieder letzter wurde, da am meisten schwarze Kugeln sich bei ihm im Abschnitt des großen Kreises befanden. Und das jede Nacht aufs Neue.

Eines Tages konnte er die Erniedrigungen seiner Brüder nicht mehr ertragen. So gab der sechste Sinn das Spiel auf und verließ die Höhle wie auch seinen Heimatwald.

Der sechste Sinn geriet in Vergessenheit. Doch er war nicht ganz verschwunden aus der Welt. Ganz im Gegenteil. Er wanderte umher. Von Dorf zu Dorf. Von Mensch zu Mensch. Immer wieder machte er halt, um zu prüfen, ob ihn einer der Menschen kannte. Er wurde allerdings immer enttäuscht. Niemand erinnerte sich an einen sechsten Sinn.

So kam es, dass der sechste Sinn in ein Dorf gelangte, in welchem Armut und Hunger die Bewohner plagten. Die Ernte verdarb fast immer vollständig und so blieb den Menschen gerade genug, um nicht zu sterben. Doch das reichte nicht, denn der Hunger plagte sie trotzdem. Kein Magen war je vollständig gefüllt und so waren die Bewohner ständig dabei, etwas Essbares zu suchen.

So auch ein kleines Mädchen. Sie war gerade mal sieben Jahre alt und besaß wunderschönes blondes Haar. Der sechste Sinn traf sie, als sie durch die Straßen zog und nach etwas Essbarem bettelte.

„Lieber Reisender", sprach sie den vergessenen Sinn an, „Habt Ihr nicht etwas zu essen für mich? Nur eine Kleinigkeit?" Der sechste Sinn sah sich erschrocken um. Lange schon hatte ihn niemand mehr angesprochen. Er war ein unscheinbarer Mann, so wie er ein unscheinbarer Sinn war, und wurde daher von den meisten einfach übersehen.

„Ich trage leider nichts bei mir als meine eigene Kleidung", entschuldigte er sich bei dem Mädchen. Dieses senkte bescheiden den Kopf und blickte traurig auf den Boden.

„Ist schon gut", meinte sie schließlich, „Ich wollte Sie nicht aufhalten."

„Du hältst mich nicht auf!", stellte der Sinn gleich klar, denn es war für ihn ein wunderschönes Gefühl beachtet zu werden und er wollte dieses Gefühl nicht hergeben. Um nichts in der Welt wollte er diesen Augenblick vorübergehen lassen.

„Zeigst du mir das Dorf?", fragte er freundlich und hoffte so, die Unterhaltung noch zu verlängern. Fröhlich und mit einem Lächeln auf den Lippen nickte das Mädchen euphorisch. Sie liebte es, durch die Straßen zu spazieren und dabei konnte sie sich nun endlich mit jemanden unterhalten. Kinder in ihrem Alter gab es in dem Dorf nicht viele und die, die es gab, spielten immer irgendwelche doofen Spiele, die das Mädchen hasste. So war es oft allein.

„Hier, wo wir gerade stehen, ist der Dorfplatz", begann sie gleich zu erklären, „Das meiste Leben spielt sich hier ab." Der sechste Sinn schaute sich interessiert um. Fast niemand befand sich hier. Und die Leute, die hier waren, gingen schnell weiter und blieben kaum stehen. Das Dorf musste sehr klein sein, wenn das meiste Leben sich hier abspielte, aber niemand sich hier befand.

„Ich weiß, es ist nicht viel los", bemerkte das Mädchen sein Zögern, „Es war mal viel los hier, aber seit Hunger und Armut unser Dorf beherrschen, zeigen sich die Leute nicht mehr wirklich." Traurig schaute sich das Mädchen um. Sie liebte diesen Ort, das konnte der sechste Sinn in ihren Augen erkennen.

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