Am nächsten Morgen machte er die übliche Runde: Seinen Sohn im Erziehungstrakt abgeben, kurzer Abstecher in die Kantine für einen Haferbrei, danach zum Umkleideraum der Wartungstechniker.
Eine Handvoll Kollegen stand und saß bereits in der Kammer mit den zerbeulten blauen Metallspinden. Sie zogen ölverschmierte gelbe Overalls an und unterhielten sich gedämpft. Während er seinen Schrank quietschend öffnete, bekam er mit, dass die Sendung von gestern scheinbar das Hauptthema war. Es wurden ähnliche Argumente ausgetauscht, wie er sie bei Lena angesprochen hatte. Offensichtlich war er nicht der Einzige mit Zweifeln.
Eine schwere Pranke landete auf seiner Schulter.
„Guten Morgen, Melvin", sprach ihn Konrad in seinem tiefen Bass an. Der Mittfünfziger mit dem breiten grauen Schnauzbart und kahlen Kopf war unbemerkt hinter ihn getreten. „Machen wir heute die geplante Inspektionsrunde gemeinsam?"
Heute? Inspektionsrunde? Eigentlich war er zur Reinigung der Abflüsse in Sektor 108-7 eingeteilt. Allein. Als er sich irritiert umdrehte, zwinkerte ihm sein Kollege zu. Ihm war nicht wohl dabei und als Wartungstechniker hatten sie sich strikt an ihren Dienstplan zu halten. Wegen schlampiger Arbeit hatte er bereits einen Verweis kassiert. Noch einer und er würde womöglich eingezogen.
★★★ ONC-Meilenstein 1: ca. 2.000 Wörter ★★★
Jedoch vertraute er seinem Freund und Mentor. Der füllige Mann mit dem trockenen Humor hatte ihn mit 14 Jahren, nach Abschluss seiner Schulbildung, unter die Fittiche genommen. Praktisch alles, was es über ihre Bunkertechnik zu wissen gab, hatte er ihm beigebracht. Daher nickte er ihm knapp zu, zog seinen eigenen fleckigen Overall drüber und legte den speckigen Werkzeuggürtel an.
Das Licht ihrer Petroleumlaternen, die sie nutzten, um keine Batterien zu verschwenden, warf tanzende Schatten auf die feuchten Betonwände. Sie waren nahezu eine halbe Stunde durch enge Wartungsschächte, einsame Treppenhäuser und kaum genutzte Flure geklettert. Inzwischen befanden sie sich in einem verlassenen Wartungsbereich der obersten Stockwerke. Schweigend wanderten sie durch einen zwei Schritt breiten, ihm unbekannten Korridor. Trotz eines ständigen Luftzugs trieb ihm die feuchtwarme, abgestandene Luft den Schweiß auf die Stirn und sammelte sich in Pfützen auf dem Boden.
„Konrad, bitte warte", rief er zum Kollegen vor ihm, „wir sind weit genug weg. Hier hört uns niemand. Jetzt erzähl mir, was diese Scharade soll. Ich riskiere, einen Verweis zu erhalten und eingezogen zu werden, falls man mich hier erwischt. Und du auch."
Mit platschenden Schritten blieb sein Gegenüber stehen und leuchtete ihm mit der Lampe ins Gesicht. „Na und? Willst du etwa nicht ehrenvoll für unsere Familien und Kinder sterben?"
Der Sarkasmus war nicht zu überhören. Er kannte den alten Mann und seine Meinung zum Krieg. Sie unterschied sich nicht wesentlich von seiner.
„Hör auf mit dem Blödsinn. Das meine ich ernst. Hat es etwas mit den Nachrichten von gestern zu tun?"
„Was glaubst du?"
„Ist doch egal. Wenn du mir nicht endlich sagst, worum es geht, drehe ich auf der Stelle um und sehe zu, dass ich meinen Wartungsdienst korrekt absolviere. Für Kinderkram und Rätselspiele habe ich keine Zeit."
„In Ordnung", der alte Techniker atmete tief durch und wurde ernst. „Ich möchte dir etwas zeigen. Es ist wichtig. Du wirst es verstehen, sobald wir dort sind."
„Na toll." Langsam wurde es ihm zu bunt und er war im Begriff umzudrehen.
„Das ist nichts, über das man redet. Egal ob wir hier allein sind oder nicht."
Er hielt inne. „Hast du etwa einen Ausgang oder Fenster gefunden, aus dem man sehen kann, wie es draußen wirklich aussieht?!", entfuhr es ihm.
„Du wirst es gleich erfahren", antwortete Konrad weiterhin ausweichend. „Und jetzt leise, es ist nicht mehr weit."
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📚 Die Bunkerjugend Emeralds (Leseprobe)
Science Fiction[Dystopischer Thriller] In einer zukünftigen Welt, in der Realität und Illusion verschwimmen, muss Melvin, ein achtzehnjähriger Bunkerbewohner, eine erschreckende Wahrheit aufdecken, die sein ganzes Leben auf den Kopf stellt. Sein bisheriger Alltag...