Kapitel 7

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Wahrheit oder Pflicht

Als wir das Wohnzimmer betraten, fiel mir erst auf, dass Tommy und Bernd händchenhaltend auf dem Boden saßen und sich richtig nach dem "schwulen Klischee" bekleidet hatten. Das fand ich richtig klasse! Die beiden verkörperten tatsächlich unser Motto einwandfrei. Beide hatten sich feminin geschminkt, trugen bauchfreie Tops mit einer offenen Blümchenbluse. Sie hatten kurze, löchrige Shorts an und bis zum Knie lange Regenbogensocken. Für das komplette Sommeroutfit hatten beide neongrüne Sandalen an. Insgesamt sah es sehr bunt aus. Sie winkten uns zu, als sie uns in der Tür erkannten. Ich lächelte und winkte schüchtern zurück. Anke und Malte hatten sogar ein outfitmäßigen Geschlechtertausch gemacht, was wirklich interessant war. Anke hatte einen Anzug an und sich ein paar schwarze Stoppeln ins Gesicht gemalt. Geschmückt wurden ihre blonden, halblangen Haare mit einer blau-hellrosanen Cappi. Diese erinnerte mich sehr stark an die offizielle Transgenderflagge. Mit ihrer verstellen Stimme und der lässigen Haltung wirkte sie wirklich fast wie ein junger Mann. Da kam auch schon Malte im quietschepinken, aufgebauschtem Kleidchen angetänzelt. Er hatte einige große und kleine bunte Schleifchen in seinen schwarzen Strubbelhaaren. "Bin ich nicht eine Superballerina?", säuselte er um Anke, "das sollte ich vielleicht professionell machen." Genau als er das sagte, knickte er mit einem Fuß bei seiner Drehung um und flog nicht sonderlich elegant in Ankes Arme, die sie reflexartig ausstreckte. "Danke, meine holde Dame", grinste er und erhob sich langsam wieder. Ich musste lachen und schaute mich weiter im Wohnzimmer um. Hanna hatte sich zu Marie und Caro gesellt. Sie trug ein sehr kurzes, rot-schwarz kariertes Röckchen mit einer durchsichtigen Strumpfhose und schwarzen Sandalen. Unter ihrer schwarzen Lederjacke trug sie ein rotes, bauchfreies Top. Ihre schwarzen, kurzen Haare passten einwandfrei dazu.
Ich sah aus dem Augenwinkel, dass noch eine schüchtern wirkende Person sich ihren Weg hinter uns zum Wohnzimmer bahnte. Ich drehte mich um und sah Marvin. Marvin war unser neuer Schüler seit paar Wochen, und mir nie wirklich aufgefallen. Er war einer der Personen, die einfach nur da waren. Ähnlich wie ich. Er war im schwarzen Anzug gekleidet und sah ziemlich vornehm aus. Seine langen, blonden Haare hatte er zu einem Dutt hinten zusammengebunden. Ich machte ihm Platz und er trag dankend nickend ein.
Ich konnte nicht genau raushören, wer dies rief, aber irgendwer forderte alle im Raum stehenden Jugendliche zu dem Spiel "Wahrheit oder Pflicht" auf. Ich trat schnell einen Schritt nach hinten, sodass ich hinter der Schwelle und somit nicht im Raum war, doch Melody, die immernoch neben mir stand, nahm schnell meinen Arm. Ehe ich mich versah, saßen wir mit allen anderen in einem großen Sitzkreis und Anke legte eine fast leere Flasche in die Mitte und drehte. Die Spitze blieb bei Malte stehen. Schnell bestimmten wir noch jemanden, der nichts erzählen musste sondern nur die Fragen und Aufgaben an alle verteilte, dann ging es los. "Fangen wir harmlos an. Was ist dein Lieblingsessen?" "Pommes!", rief er direkt wie aus der Pistole geschossen. Alle lachten, und er drehte die Flasche weiter. Die nächste Frage wurde an Bernd gestellt. Auf die Frage, ob er lieber Kirschen oder Auberginen mochte, musste er lachen. "Ich mag Kekse! Kekse mit Aubergine! Und ich bin stolz drauf." Er zwinkerte Tommy zu und er gab als Antwort einen lauten Schmatzer auf seine Wange. Die nächste Runde war sogar ich dran. Und natürlich sollte genau ich meine peinlichste Geschichte, die mir in dem Moment einfiel, erzählen. Das konnte ich doch nicht tun! Was würden die anderen über mich denken? Aber ich wollte auch kein Spaßverderber sein, daher nahm ich meinen Mut zusammen und erzählte die erstbeste Story, die mir einfiel. "Okay also irgendwann im Kindergarten sollten wir Roboter nachbauen, und denen am Ende einen Namen geben. Ich war so stolz auf meinen Roboter, dass ich ihn überall mit hingenommen habe. Egal wo. Ob Einkaufen, Pause, auch beim schlafen lag sie neben mir. Es war gerade Fußball-WM, und mein Bruder und ich schauten die auf einer großen Leinwand im Garten mit paar Nachbarn. Dort würde ich erstmals gefragt, wie ich meinen Roboter genannt und dass ich sie richtig gut gebaut hatte. Ich wusste nicht, was dieses Wort bedeutete, aber es wurde vor allem im Erwachsenenkreis oft benutzt. Deshalb wollte ich auch Erwachsen wirken und habe sie so genannt. Aber als ich gesagt habe, dass ich sie "Knutschi" genannt habe, wurde ich sehr verstört angeschaut, mit entweder keinem oder einem "Aha" als Kommentar alleine auf der Bank sitzen gelassen. Ich habe mich jahrelang gefragt, was am dem Namen Knutschi so falsch war."
Alle prusterten lauthals los. "Hahaha ernsthaft?", kreischte Marie und hielt sich die Hand vor den Mund. Ja, leider war dies die Wahrheit. "Hört auf zu lachen, das ist peinlich!", knirschte ich und spielte auf böse und schlechte Laune. "Hast du Knutschi noch?", fragte Melody. "Nein, leider nicht mehr. Sie hatte einen großen Schuhkarton als Bauch, einen kleineren als Kopf und leere Küchenpapierrollen als Gliedmaßen. Die Haare waren aus Klebeband, Stiften, Wollfäden und Ästen. Das Gesicht hatte ich draufgemalt, beziehungsweise die Augen bestanden aus schwarzen Knöpfen." "Stelle ich mir sehr interessant vor" meinte Hannah, "hatte Knutschi einen Freund? Wie vögeln eigentlich Roboter?" "Darf die Flasche den oder die nächste bestimmen?", versuchte ich abzulenken und drehte. Zum Glück stoß ich auf keine Widerworte. Es war unangenehm, aber auch ziemlich lustig, meine kleine Story zu erzählen. Die Flasche traf Marvin. "Mit welchem Mädchen hättest du am ehesten etwas aus dem Raum?" Marvin wurde rot wie eine Tomate und versteckte sein Gesicht in seinen großen Händen. "Sag schon. Es ist dir keine böse" versuchte Else ihn zu überreden. "Fängt mit A an. Aber mehr sag ich nicht!" flüsterte er. "Ich?", fragte Anke. "Alma?", fragte Else und deutete grinsend auf meine Wüstenrennmaus, die im hinteren Teil des Zimmers in ihrem Laufrad ihre Runden drehte. "Alicia?", fragte Malte. "Anke war richtig" flüsterte Marvin. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Zumindest einwas Gutes heute. Anke quiekte glücklich, und bevor sie etwas sagen könnte, drehte Marvin schnell die Flasche weiter. Else sollte nun den Ententanz machen. "Nur wenn noch jemand mitmacht!", diskutierte sie und weigerte sich. "Okay, ich mach mit" sagte ich grinsend aus Loyalität und hockte mich zu Else. Melody folgte mir wortlos und zu dritt tanzten wir da wie richtig besoffene Enten herum. Das sah sicherlich ziemlich witzig aus, vorallem, als wir nacheinander immer wieder auf den Po plumsten. Wir lachten und lachten, bis der Song zuende war. Völlig fertig ließ ich mich auf meinen Allerwertesten plumsen, als Else über meine Füße stolperte. Lachend lag sie plötzlich neben mir und wir kriegten uns nicht mehr ein. Wir blendeten die anderen aus, und lachten uns die Kehle aus dem Leib.
"Habt ihr's Mal?", fragte Hannah, "das dauert ja doppelt so lange, wie ich zum Orgasmus brauche." Else und ich schauten uns an und versuchten nicht mehr zu lachen. Doch als wir wieder an unseren Plätzen saßen und uns ansahen, ging unser Lachkrampf weiter. Hannah drehte schnell für Else, und es zeigte in Richtung Melody. "Hattest du schon Mal etwas mit einem Mädchen, wie war es oder möchtest du es Mal ausprobieren?", lautete ihre Frage. Alle schauten sie gespannt an. Sie kratzte sich verunsichert am Kopf, schüttelte den Kopf, ergänzte aber:" Mal ausprobieren würde ich es vielleicht, wenn es die richtige für mich wäre. Wie Mal jemand sagte, 'ein bisschen bi schadet nie.'" Auch sie drehte schnell weiter, damit keine weiteren Fragen entstehen konnten. Sie schaute mich vorsichtig von der Seite an, und ich sie. Ihr Blick zog mich wie magisch an. Sie zwinkerte mir zu uns drehte ihren Kopf wieder Richtung Flasche. Mein Kopf war wie leer. Hatte sie gerade meine Gedanken aus meinen Kopf gesaugt? Ich wusste es nicht.
Tommy war dran, wie ich der Flasche entnehmen konnte. Er sollte seine erste Erinnerung mit allen teilen. Nach kurzem Überlegen find er an: "Ich saß mit meiner kleinen Schwester als Kleinkind in der Badewanne. Wir haben es geliebt, Papier zu schrettern, also haben wir den geschretterten Inhalt aufgehoben, und irgendwann damit unsere komplette Badewanne gefüllt. Wir haben uns beide reingesetzt und damit im kompletten Bad herumgeworfen. Das war ziemlich lustig!" Er lachte, "naja, unsere Eltern fanden es nicht so lustig."
"Wie niedlich!", rief Malte.
"Die nächsten zwei, die die Flasche auswählt, sollen sich küssen!", rief Hanna plötzlich aus dem Nichts und drehte. Die Flasche zeigte auf Melody. Erstaunt schaute sie in die Runde, und nickte. "Na, jemand freiwillig?", fragte sie, und schaute jeden nacheinander in die Augen. Ich hatte den Eindruck, mich schaute sie länger an, als alle anderen. Eine Seite von mir wollte sich melden, die andere sah schon den ganzen Spott und die Enttäuschung in Melodys Augen. Deshalb unterdrückte ich den Drang, meinen Arm in die Luft zu heben. "Niemand? Okay dann entscheidet die Flasche." Melody drehte. Drehte sich die Flasche dieses Mal in Zeitlupe? Es kam mir irreal vor. Die Stimmen der anderen verschwammen, sowie die Sicht vor mir. Direkt erinnerte ich mich an die ziemlich ähnliche Situation vor kurzem in der Kantine. Ich hoffte, dass es schnell vorbeiging, und kontrollierte, ob ich irgendetwas in meiner Hand hielt. Zum Glück war diese leer. Der Flaschenhals zeigte auf Else. "Alle aber nicht sie. Sie ist meine Cousine" warf Melody ein. "Ich möchte das auch nicht. Darf ich nochmal neu drehen?", fragte Else. Sie drehte erneut die Flasche, und diesmal landete sie einen Platz neben mir, ziemlich knapp an der Grenze zwischen Hannah und mir. "Uuhh jaaa, einen lesbischen Kuss hatte ich lange nicht mehr" säuselte sie und drehte sich über mir zu Melody. Ich kauerte mich noch mehr hin, um so klein und wenig störend wie möglich dazusitzen. Etwas stockend kam Melody ihr näher, dann wurde auch ihr Gesicht gepackt und zu Hannah gezogen. Ich konnte über mir gut und deutlich die dabei entstehenden Geräusche hören, und hielt mir die Ohren zu. Es tat irgendwie weh, dies zu hören. Ich wusste nicht, warum, aber ich bereute es, mich nicht gemeldet zu haben. Irgendetwas stach mir tief ins Herz, aber ich konnte mich nicht noch mehr beugen um den Schmerz zu verhindern, denn ich lag ja fast schon auf dem Boden. Beziehungsweise ich hockte, lag aber trotzdem fast flach. Wie es sich nur anfühlte, von einem so hübschen Mädchen wie Melody geküsst zu werden? Ich wüsste es gern, doch traute mich nicht.

Warte...

Was suchten diese Gedanken schon wieder bei mir?! Können die mich nicht endlich Mal in Ruhe lassen?! Ich schreckte vor meinen Gedanken hoch, und stieß gegen die immernoch ineinander führenden Gesichter. "Au!", beschwerte sich Hannah. "Dankeschön, der Kuss war viel zu lange. Man könnte fast denken, ihr wärt lesbisch!", sagte irgendjemand und Melody kratzte sich verlegen am Hinterkopf und flüsterte mir zu: "danke dir, ihr Kuss war echt feucht und eklig. Ich weiß nicht, wann sie zuletzt ihre Zähne geputzt hat." Ich grinste in mich rein. Ich hatte tatsächlich erwartet, dass sie sauer wäre, aber im Gegenteil. Ohne jegliche weitere Kommentare wurde das nächste Paar zum Küssen ausgewählt. Mein Schwindenanfall wurde aber nicht besser, und es kam plötzlich ziemlich starte Übelkeit hoch. Also stand ich auf und rannte ins Bad, um mich nicht vor allen anderen übergeben zu müssen. Hoffentlich ließen sie mich endlich alleine und hoffentlich lief mir keiner hinterher! Dann ließ ich meinem Körper freien Lauf.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 07 ⏰

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