✰ Kapitel 20

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Freitag.

Noch nie habe ich einen Tag so sehr herbeigesehnt und gleichzeitig gefürchtet. Ganz davon abgesehen, dass ich die vergangenen Tage verbracht habe, als würde ich in einer Zwischenwelt leben. Körperlich anwesend, aber geistig in einer anderen Dimension.

Natürlich hat Madelaine mich weiterhin mit Informationen zu Ethan versorgt. Er macht täglich Fortschritte, aber seine Genesung ist ein Prozess und der braucht nun mal eine gewisse Zeit. Seine Stimme scheint er bisher auch noch nicht wiedergefunden zu haben, wie sie mir am Telefon berichtet hat. Diese Tatsache ist allerdings nicht weiter ungewöhnlich, weil sich die Aufwachphase ohne weiteres mehrere Tage ziehen kann. Während Ethan sich also wenige Meilen von mir entfernt ins Leben zurück kämpft, besuche ich die Vorlesungen und versuche, zuversichtlich zu bleiben. Dies gelingt mir mal mehr, mal weniger, aber glücklicherweise kann ich mich immer auf Cassie verlassen. Sie ruft mich zur Vernunft, wenn die negativen Gedanken mal wieder drohen, die Überhand zu übernehmen.

Auch für mich ist die gesamte Situation ein mühsamer Prozess, welchen ich ohne die stützende Schulter meiner besten Freundin ganz sicher nicht überstehen würde. Sie besteht auch drauf, mich zumindest bis zum Krankenhaus zu begleiten, weshalb wir uns gegen einundzwanzig Uhr gemeinsam auf den Weg gemacht haben.

Die ganze Zeit über schwankt meine mentale Verfassung zwischen riesiger Vorfreude und der Angst, enttäuscht zu werden. Was ich erwarte? Keine Ahnung! Allerdings klammere ich mich ein wenig an die Hoffnung, dass er mich ebenfalls aus seinen Träumen kennt und wir vielleicht dort weitermachen können, wo wir vor seinem Gang in die Dunkelheit aufgehört haben. In der realen Welt, versteht sich.

»Du weißt, was wir besprochen haben?«, vergewissert sich Cassie und bedenkt mich mit einem mahnenden Blick. »Keine unbedachten Äußerungen. Du lässt es langsam angehen und gibst ihm die Chance, auf dich zu reagieren.«

Ich nicke und versuche die immer größer werdende Anspannung irgendwie wegzuatmen.

»Madelaine wird ein Auge auf dich haben. Ich finde es echt toll von ihr, wie sie dich unterstützt«, schwärmt sie, woraufhin ich dann doch den Blick hebe, um meine beste Freundin anzusehen.

»Habe doch gleich gesagt, dass ich ein Auge für gute Menschen habe.« Ich lächle sie schief an und sie hebt ergeben ihre Hände.

»Du schuldest ihr noch einen Sushi-Abend, oder? Was dagegen, wenn ich mitkomme?«

»Natürlich kannst du mitkommen«, stelle ich sofort klar, aber bevor ich das Gespräch über unsere ausstehende Verabredung vertiefen kann, haben wir auch schon den Krankenhauseingang erreicht.

»Du gehst jetzt da rein und zeigst Ethan, was ihm das Schicksal für eine tolle Frau geschickt hat, ja?« Cassie hat sich vor mir platziert und hält meine Hände fest umschlossen. »Aber natürlich ohne den armen Kerl zu überfordern, klar?«

Wieder nicke ich, diesmal fühlt sich mein Hals jedoch auf unangenehme Weise zugeschnürt an.

Ohne Vorwarnung zieht mich meine beste Freundin in eine feste Umarmung, bevor sie sich auch schon wieder von mir löst.

»Ich rufe dich morgen früh an«, verspreche ich. Sie wirft mir noch eine Kusshand zu und ich betrete das Gebäude, in der Hoffnung, Ethan endlich kennenzulernen.

****

Die Übergabe hat sich wie Kaugummi gezogen und ich atme erleichtert aus, als das Personal der Spätschicht endlich durch die Tür ist. Der Nachtdienst besteht auf unserer Station wie immer aus einer Ärztin, zwei Krankenschwestern und einer Hilfskraft. Nachdem wir die planbaren Aufgaben für die Nacht verteilt haben, bekomme ich die Gelegenheit, allein mit Madelaine zu sprechen.

»Du fühlst dich also wirklich bereit für eine Begegnung mit Mr. Marsh?«, vergewissert sie sich und ich meine den Anflug von Besorgnis in ihren Augen zu erkennen.

»Keine Sorge, ich werde schon nicht über ihn herfallen«, versuche ich meine eigene Nervosität zu überspielen. Ich lächle gequält, woraufhin sie langsam zu nicken beginnt.

»Also gut ... Wir gehen gemeinsam zu seinem Zimmer und ich gebe dir die Möglichkeit mit ihm alleine zu sein. Fünf Minuten und keine hysterischen Anfälle, okay? Meine Approbation würde ich nämlich gerne behalten.«

»Ich werde keine Szene machen«, verspreche ich.

Als wir über den hellen Linoleumboden zu seinem Zimmer laufen, ist mir schlecht und kurz ziehe ich in Erwägung, mich vor unserer Begegnung vielleicht doch noch übergeben zu müssen. Tausend Dinge, die ich ihm gerne sagen will, vernebeln meine Sinne und die Tatsache, nicht zu wissen, was mich erwartet, macht es nicht besser. Falls er wach sein sollte, wird er mir nicht antworten, dessen bin ich mir bewusst. Trotzdem hoffe ich darauf, dass er mir nonverbal zu verstehen gibt, mich wiederzuerkennen.

»Fünf Minuten«, erinnert mich Madelaine und hält zur Veranschaulichung ihre ausgestreckte Hand direkt vor mein Gesicht. »Wenn er schläft, weckst du ihn nicht und wir versuchen es später nochmal.« Dann macht sie eine Kopfbewegung in Richtung der verschlossenen Tür, woraufhin ich all meinen Mut zusammennehme und eintrete.

Ich schließe die Tür geräuschlos hinter mir und muss die Augen aufgrund der spärlichen Beleuchtung zusammenkneifen, um etwas erkennen zu können. Langsam trete ich an sein Bett heran, während ich das Blut ganz deutlich in meinen Ohren rauschen hören kann. Auch mein Herzschlag ist so laut, dass ich befürchte, er könne ihn ebenfalls wahrnehmen.

Als ich neben sein Bett trete, sehe ich, wie er verschlafen die Augen öffnet und mich verwirrt ansieht.

Atmen. Du darfst jetzt bloß nicht vor ihm in Ohnmacht fallen.

»Hi, mein Name ist Allie und ich bin heute im Nachtdienst«, versuche ich mein Erscheinen möglichst souverän zu erklären. Hoffnungsvoll suche ich in seinen Gesichtszügen nach einem Zeichen dafür, dass er mich erkennt. Er muss einfach.

Doch anstelle eines Lächelns, nickt er nur kurz und dreht sich anschließend auf die andere Seite, um weiterzuschlafen. Wie angewurzelt verweile ich auf der Stelle, den Blick verzweifelt auf seinen Hinterkopf gerichtet. Bitte dreh dich wieder um. Gib mir ein Zeichen. Irgendwas.

»Ich wollte nur sehen, ob alles in Ordnung ist. Schlafen Sie gut, Mr. Marsh«, zwinge ich mich irgendwann zu sagen und kämpfe mühsam gegen die aufsteigenden Tränen an, als ich mich von seinem Bett abwende.

Wie in Zeitlupe bewege ich mich auf die Tür zu, versuche irgendwie meine Enttäuschung zu verarbeiten. Doch als ich endlich den Ausgang erreicht habe, trifft mich die Erkenntnis jedoch wie ein Schlag in die Magengrube:

Er hat offenbar keine Ahnung, wer ich bin.

DreamerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt