Kennst du dieses Gefühl, wenn der scheinbar erste Regentropfen eines Sturms dein Gesicht an einem heißen Sommertag trifft? Dieser eine kleine Tropfen der eine Kaskade von Aktionen, Reaktionen, Gefühlen und Empfindungen auslöst, und doch eigentlich so unwichtig erscheint? Viele sprechen in diesem Moment von „Ruhe vor dem Sturm", doch ich empfinde diesen Moment ganz und gar nicht als ruhig. Wie ein Orchester fängt der Wind in den Bäumen eine einzigartige Sonate zu spielen, die nur darauf wartet, ihren Höhepunkt zu erreichen. Beobachter dieses Spektakels sind dabei grenzenlose Variationen von Wolken, die im endlosen Himmel unkoordiniert und doch in irgendeiner von Windströmen geleiteten, uniformen Bewegung genau diesen verdunkeln.
Erst zeigt sich ein Tropfen, dann erscheinen Weitere. Regellos, formlos prallt der Regen auf alles sich unter den Wolken Befindende. Automatisch fängt unser Gehirn an alle entstehenden Wahrnehmungen in unterschiedliche Gefühle zu transferieren.
Sei es Ruhe und Entspannung, weil der Rhythmus der Regentropfen eine meditative Wirkung hat. Wut, Frust oder Abscheu, weil wir plötzlich durchnässt werden oder doch eher Glück und Zufriedenheit, weil genau dieser Moment in uns Nostalgie hervorruft. Vielleicht sogar ein Gefühl der Freiheit, einfach alles in diesem Moment fallen zu lassen und wie ein Regentropfen die Welt im Sturz zu erleben.
Ein Augenblick, in dem im Menschen einiges passiert, makroskopisch hingegen noch weitere Veränderungen hervorgehen. Die Temperatur sinkt, Luftfeuchtigkeit steigt. Der Boden kühlt ab und wird brüchig. Petrichor. Das ist die Bezeichnung vom Geruch des Regens, wenn dieser auf trockene Erde trifft. In der Chemie würden wir es Geosmin nennen, ein Molekül, welches von im Boden lebenden Mikroorganismen produziert wird. Tropfenweise absorbiert der Regen nun in immer größer werdenden Pfützen dieses Molekül und verleiht allmählich der Szenerie einen uns bekannten Geruch. Ein Zusammenspiel von Aroma und Klang überdeckt alle vorherigen Gerüche und Geräusche. Konstrukte, die in akribischer Feinheit errichtet wurden, wie eine Sandburg eines Kindes oder das Nest einer Ameisenkolonie werden zerstört. Der durch die Naturgesetze geschaffene Boden verliert seine Struktur in dem Verbindungen zwischen Atomen durch die neue Komponente des Wassers getrennt und verändert werden. Wie viel Energie muss die Welt in alle diese Dinge investieren, um sie erneut zu errichten? Gleichzeitig sickert aber der Regen durch alle Löcher und Fasern, des aufgebrochenen Bodens, durch jeden Riss im Asphalt und versorgt damit eine Vielzahl von Organismen mit essenziellem Wasser für neues Wachstum.
Ein Mutualismus von Aufbau und Zerstörung. Alles in nur wenigen Minuten, dank des ersten Regentropfens.All diese Gedanken beschäftigten mich, als sah wie das Blut des jungen Mannes in den Fugen vom Betons des Treppenhauses langsam, tropfenweise von einer Treppe zur nächsten Treppe floss. Paralysiert stand ich fünf Treppenstufen weit hochgestiegen auf der letzten Treppe zur zehnten Etage eines Plattenbaus. Das Gebäude hatte nur neun bewohnte Etagen, die letzte zehnte Etage war eine Versorgungsetage auf der Generatoren und Stromverteilerkästen standen gedacht. Das Mondlicht erhellte durch das Sichtschutzglas das Treppenhaus in einen Cyan Ton. Es war kühl und doch spürte ich die strahlende Wärme der frischen Leiche, die auf dem Plateau der zehnten Etage lag, stark vor mir. Als das Blut dann auf meine Treppenstufe getropft ist und meinen Schuh traf, konnte ich mich wieder bewegen. Auf dem Plateau lag also eine Leiche eines mir unbekannten jungen Mannes mit einer tiefen Stichwunde im oberen linken Rückenbereich. So eine Stichwunde würde definitiv den linken Lungenflügel perforieren und gleichzeitig einen Lungenkollaps hervorrufen: Sicherer Tod. Nebenan liegt ein Messer. Bei genaueren Hinsehen bemerkte ich, dass mein Miyabi Messer blutverschmiert neben der Leiche lag.
Wie kommt es dahin? Habe ich diese grässliche Tat begangen? Beides Fragen die mir in den Kopf kamen, doch mehr beschäftigte mich, was solch eine Tat für Nachwirken erzeugen kann.
