Ich betrete das Gebäude und finde mich im Eingangsbereich wieder. In zwei Ecken stehen Sessel und Sitzsäcke, die sehr gemütlich aussehen. Überhaupt hatte ich erwartet, dass es hier aussehen würde, wie in einem Krankenhaus. Man hat sich wohl wirklich Mühe gegeben, diesen Ort möglichst harmlos aussehen zu lassen. Ziemlich ironisch, weil die einzigen Leute, die hier her kommen, entweder todkrank sind oder trauernde Angehörige, die versuchen stark zu sein und oft daran zerbrechen.
Ich muss wohl ziemlich lange einfach so im Raum gestanden und die Fotos an den Wänden betrachtet haben, denn plötzlich steht der Mann neben mir, der mir vorher noch vom anderen Ende des Raumes zugelächelt hatte, während eine kleine Familie von drei Leuten ihn irgendwas gefragt hatte.
"Das sind alles Wünsche, die wir schon erfüllt haben." erklärt er mir stolz. Er ist ein etwa Anfang sechzig jähriger Mann mit Vollbart, der aber sehr gepflegt aussieht. Die Bilder an den Wänden zeigen alles mögliche.
Ein Mädchen, höchstens zehn Jahre, das mit Delfinen schwimmt, daneben eine Person, die mit einem Fallschirm aus einem Flugzeug springt, ein anderes zeigt einen Jungen, der vielleicht mein Alter ist, wie er auf Kamelen durch die Wüste reitet.
Justus, 2011 Steht darunter.
Ich schlucke, irgendwie kommt mir mein Wunsch jetzt albern vor. "Bist du Fynn?" Ich drehe meinen Kopf zu dem kleinen Mann und nicke. "Na dann komm mal mit." Nachdem er mich ein paar Sachen hat unterschreiben lassen, welche ich gar nicht erst lese, gibt er mir einen kleinen Zettel mit einer Zimmernummer, 203. "Frau Kallaus wird alles mit dir besprechen", verkündet er.
Ich danke ihm und mache mich nach einem kurzen Blick auf den Lageplan auf den Weg in den zweiten Stock. "Herein" tönt es von hinter der Tür als Reaktion auf mein Klopfen. Ich drücke die Klinke runter und finde mich selbst in einer Art Büro wieder. Hinter dem Schreibtisch steht eine Frau in Latzhose, die versucht hat, ihre blonden Haare mit Hilfe eines Stiftes zu bändigen. Ein paar Strähnen haben sich aus ihrem improvisierten Zopf gelöst und baumeln an ihren Seiten herunter.
"Du musst Fynn sein!" begrüßt sie mich und kommt mit einem warmen Lächeln auf mich zu. Nach einem kurzen Händeschütteln kehrt sie auf ihren Platz zurück und bittet mich auf einem Stuhl vor ihrem Tisch Platz zu nehmen. Neben einem Computer und einigen Papierstapeln befinden sich unzählige Souvenirs auf ihrem Schreibtisch.
Ein kleiner aus Holz geschnitzter Elefant, der bunt bemalt wurde, ein ganzer Ständer voll mit bunten Perlenketten, Muscheln in den verschiedensten Formen und Farben und vieles Mehr. Der ganze Raum gibt mir ein eigenartiges Gefühl im Bauch.
Diese Frau ist verdammt gut in ihrem Job. Vor ein paar Minuten stand ich noch vor diesem Gebäude und alles was ich machen wollte, war mich in meinem Bett zu verkriechen und nie wieder raus zu kommen. Dieser Schritt, hier her zu kommen. Das macht es endgültig. Ich bin so gut wie tot. Aber jetzt in diesem Raum kommt mir das gar nicht so schlimm vor. Wenn das hier klappt wartet die beste Zeit meines Lebens auf mich und das auch noch mit meinem besten Freund.
„Ich habe deinen Brief gelesen. Du willst also mit deinem besten Freund Vincent nach Kalifornien?" Ich nicke. Als sie meinen Wunsch nochmal ausspricht, wird mir erst richtig bewusst, was das bedeutet.
Kalifornien.
Mit Vincent.
Dieses Kribbeln der Vorfreude macht sich jetzt deutlich bemerkbar. "Ich muss zugeben, die meisten, die her kommen, wollen irgendetwas machen, Prominente treffen oder irgendein Land bereisen und das meistens mit ihrer Familie. Dein Wunsch ist insofern außergewöhnlich, als dass du schon bald deiner Familie leb wohl sagen müsstest. Das ist dir bewusst oder?"
Ich schlucke. Natürlich ist es das. Mehr oder weniger. Ich atme tief durch und antworte ihr schließlich "Das ist mir bewusst. Sie müssen wissen, Vincent weiß nicht, dass das mein letzter Wunsch ist. Ich will meine letzten Wochen unbeschwert erleben. Und mit ihm habe ich das Gefühl, dass nichts von alldem, was in den letzten Wochen und Monaten passiert ist, zählt."
Frau Kallaus schaut mich verständnisvoll an. "Das hört sich sehr schön an. Natürlich erfüllen wir jegliche Art von Wunsch aber möchtest du mir vielleicht noch mehr erzählen? Warum Kalifornien und hast du dir bestimmte Sachen überlegt, die du gerne unternehmen möchtest oder Ähnliches?" Auf diese Bitte hin ziehe ich ein zerknittertes Papier aus meiner Hosentasche und gebe mein Bestes, es zu glätten, bevor ich es ihr überreiche. Sie nimmt es entgegen und lächelt, während sie das Blatt inspiziert.
„Das war vor 9 Jahren. Unser Lieblingslehrer in der Grundschule hat eine lange Zeit in Kalifornien gelebt und immer gerne von seiner Zeit dort erzählt. Wir waren beide so fasziniert, dass wir unserem Lehrer einen Brief geschrieben haben, dass er uns das nächste Mal auf jeden Fall mitnehmen soll. Vinc' Mutter hat ihn anscheinend aufgehoben, weil ich hab das schon total vergessen, bis Vinc mir letztens wieder davon erzählt hat." erkläre ich ihr.
„Wir waren damals zwar nur Kinder, aber wir haben pausenlos über unsere gemeinsame Zukunft in Kalifornien geredet. Das war immer unser Traum gewesen und ich kann ihn so zumindest ansatzweise erfüllen." Frau Kallaus faltet das Papier wieder zusammen und reicht es mir.
„Das ist eine wirklich schöne Erinnerung. Ich werde alles für eure Reise organisieren, damit es so schnell wie möglich für euch zwei los gehen kann. Diese Formulare hier müsste ein Erziehungsberechtigter unterschreiben, weil du ja noch nicht volljährig bist. Weil deine Eltern jetzt nicht hier sind, würde ich dir einfach einen Umschlag mitgeben, dann kannst du uns die Unterlagen per Post zuschicken. Je schneller du sie losschickst, desto schneller kann eure Reise starten. Natürlich müssen auch Vincents Eltern eingeweiht werden und alles unterschreiben. Außerdem werden wir Passbilder brauchen und auch andere Informationen, damit wir eure Visa beantragen können. Außerdem werden wir uns in nächster Zeit wohl öfters sehen und dann nicht nur du, sondern auch deine und Vincents Familie."
Sie überreicht mir einen braunen DIN A 4 Umschlag und kritzelt auf einen Notizzettel die Adresse, an die ich das Päckchen schicken soll. Ein zweiter, ebenso dicker Umschlag folgt. Auch hier schreibt sie die Adresse drauf und auch den Namen meines Freundes - Vincent. Ich danke ihr, schüttle ihre Hand zum Abschied und trete aus der Tür.
Ich nehme einen tiefen Atemzug bevor ich los gehe. Erleichterung macht sich in mir breit und mit jedem Schritt den ich gehe, fühle ich mich besser. Auf dem Parkplatz wartet meine Mutter in unserem verbeulten roten Combi und eine ganze Weile stehe ich einfach so da. Ich schaue auf den Parkplatz, auf unser Auto, die Bäume im Hintergrund und lasse die Sonne auf mein Gesicht scheinen. Es ist, als spüre ich sie das erste Mal auf meiner Haut. Vielleicht muss man erst sterben, um richtig zu leben. Und ich fange gerade erst an.