Herzenswünsche

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Das Auto hält an. „Wir sind da." Eine kurze Pause. „Bist du nervös?" Ob ich nervös bin? Ich weiß es nicht. Ich merke aber an der Stimme meiner Mutter, dass sie es definitiv ist. Das ist jetzt der neunte Arztbesuch. Wahrscheinlich der letzte. Der Arzt meinte am Telefon, dass er uns die Diagnose persönlich sagen möchte. Meine Beine tragen mich vom Auto, über den Parkplatz, durch etliche Flure bis wir schließlich vor unserem Ziel stehen. Die Tür ist weiß, mit einem metallenen Griff. Genau wie jede andere in diesem Krankenhaus. Der einzige Grund, warum ich weiß, dass wir vor der richtigen Tür stehen, ist das Namensschild direkt neben der Tür. Zimmer 302 Herr Dr. Bartels. Meine Mutter wirft mir einen kurzen Blick von der Seite zu, um sicherzugehen, dass ich bereit bin. Ich bestätige mit einem kurzen Nicken. Das ist verrückt.

Wir machen uns alle verrückt. Ich hatte hartnäckigen Husten, Gliederschmerzen und habe ein paar Kilos verloren. Das ist alles. Mir geht es gut. Ganz bestimmt. „Nehmen Sie doch bitte Platz." Herr Bartels ist ein hochgewachsener Mann mit Dreitagebart. Er war es auch, der das EKG angeordnet hat. Er hatte wohl Bedenken, dass irgendetwas mit meinem Herzen sei. „Es fällt mir schwer Ihnen mitteilen zu müssen, dass sich mein Verdacht leider bestätigt hat." Er klingt wirklich besorgt. Er öffnet Bilder auf seinem Computer, die wohl mein Herz darstellen sollen und deutet mit seinem Kugelschreiber auf einen kleinen grauen Fleck. „Sie sehen hier einen Angiosarkom, der sich im Vorhof der rechten Herzhälfte befindet." Er macht eine kurze Pause. Dann schaut er uns ernst an und erklärt: „Das ist ein Tumor. Und zwar ein bösartiger. Wir können mit Sicherheit sagen, dass er noch nicht gestreut hat, das heißt, dass keine anderen Organe betroffen sind." Ich höre schon gar nicht mehr zu. In meinem Kopf schwirren die Worte herum. Tumor. Bösartig.

Meine Mutter greift nach meiner Hand und ihr Schluchzen, das sie versucht zu unterdrücken, holt mich zurück aus meiner Trance. „Leider ist diese besonders seltene Art von Krebs nur schwer heilbar, nicht einmal wirklich das." Er gibt uns die Antwort auf die Frage, die sich keiner getraut hat zu stellen und doch auf unseren Zungen brannte. „Es gibt Behandlungstherapien, die die Symptome lindern und so deine Zeit verlängern können. Zum einen gibt es da die Chemotherapie, die Ihnen sicherlich bekannt ist. Zum anderen die Strahlentherapie. Angesichts des Stadiums, in dem du dich befindest, wäre eine Verbindung beider Therapien am sinnvollsten. Wenn wir erfolgreich sind, solltest du noch fünf Jahre haben. Mi sehr viel Glück etwas mehr. Eine langfristige Lösung wäre jedoch nur eine Herztransplantation, diese können wir aber nur mache, wenn der Tumor noch nicht gestreut hat und sich keine Metastasen gebildethaben. Und auch wenn die Herztransplantationgelingt, ist nicht sicher, dass der Krebs nicht zurückkehrt. Leider ist es sogarso das nach einer solchen Transplantation, jeder zehnte von einer Art Krebs betroffen wird." Seine Worte sind vergleichbar, mit einem heftigen Schlag in den Magen. In meinem Kopf gehe ich alle Szenarien durch. Als ich meine Gedanken sortiert habe, sind meine Mutter und Herr Bartels mit dem Gespräch schon deutlich vorangeschritten. Er erklärt ihr gerade das Vorgehen bei einer Chemotherapie und gibt ihr einen ganzen Stapel Flyer.

„Ich will das nicht!" höre ich mich plötzlich lauter sagen, als ich es geplant hatte. Im Raum herrscht jetzt eine ohrenbetäubende Stille. „Ich will das nicht.." wiederhole ich mich, jetzt sehr viel leiser. „Die Therapie, das alles." Ich sehe, wie sich die Augen meiner Mutter mit Tränen füllen. „Wie meinst du das?" Sie versucht das Zittern in ihrer Stimme zu verstecken. „Das ist es einfach nicht wert. Chemotherapie und Strahlentherapie? Für fünf Jahre mehr? Ich will meine Zeit nicht haarlos in Krankenhäusern verbringen." Ich merke, wie jetzt auch meine Augen feucht werden. „Baby, du bist erst 17 Jahre alt. Bitte denk nochmal drüber nach. Du kommst auf die Liste, für ein neues Herz." Ich schaue auf den Boden. Das alles ist einfach zu viel. Ich komme mir vor, als wäre ich im falschen Film. „Wenn ich kurz einhaken darf. Ich würde Ihnen generell empfehlen, nichts sofort zu entscheiden. Schlafen Sie nochmal drüber und vielleicht sieht morgen schon alles ganz anders aus. Falls du dich doch gegen die Therapie entscheiden solltest," er dreht den Kopf wieder zu mir „dann wirst du trotzdem auf die Liste gesetzt, jedoch ist die Wahrscheinlichkeit wesentlich geringer, dass du noch rechtzeitig ein passendes Spendeorgan bekommst. Ich würde dir auch gerne diesen Flyer mitgeben." Ich nehme das Papier entgegen und falte es auf. „Herzenswünsche e.V. ermöglicht Kindern wie dir einen letzten Wunsch. Vielleicht hast du schon was im Kopf, das du vorher unbedingt noch machen willst."

Ich schlucke. Es ist geradezu offensichtlich, wie angestrengt hier jeder das Wort Tod oder sterben versucht zu umgehen. „Danke Herr Bartels. Ich werde nochmal über alles nachdenken." Mit diesen Worten stehe ich auf und schüttele seine Hand. Meine Mutter bleibt stumm. Keiner von uns sagt etwas, bis wir ins Auto steigen. Auf dem Beifahrersitz lese ich mir die Broschüre durch, bis ich plötzlich die Hand meiner Mutter auf meiner Schulter spüre. „Hey." Sie zwingt sich zu einem Lächeln, aber sie konnte noch nie irgendetwas vor mir verstecken, schon gar nicht, dass sie kurz davor war, zu Weinen. „Ich will einfach dass du weißt, dass egal wofür du dich entscheidest, wir sind bei dir und begleiten dich auf deinem Weg bis zum Ende." Meine Eltern und ich hatten nie besonders tiefgründige Gespräche, weswegen ich auch nicht antworten kann, sondern nur stumm nicke. Ich spüre einen riesigen Kloß in meinem Hals und wende mein Gesicht schnell dem Fenster zu, als ich merke, wie ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten kann. Nach einem tiefen Atemzug startet meine Mutter den Wagen und wir fahren nach Hause, wo mein Vater auf uns wartet. 

Ich schenke dir mein HerzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt