Kapitel 1

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20.12.1995

Ganz langsam und leise tappe ich mit meinen kleinen Füßen in das Schlafzimmer meiner Eltern.

Es muss noch ziemlich früh am Morgen sein, denn noch ist es nicht wirklich hell draußen.

Ich umfasse mit meinen kleinen Händen die Türklinke des Schlafzimmers und öffne sie vorsichtig, denn ich will nicht meine Eltern wecken. Meine Eltern und natürlich auch nicht meinen kleinen Bruder, der auch ganz tief und fest im Bauch meiner Mutter schläft. Mama meinte, wenn es anfängt zu schneien wird mein Bruder zu uns auf die Welt kommen. Aber noch hat es nicht geschneit und ich bin total aufgeregt, weil ich weiss, dass wir jetzt im Winter sind und es im Winter schneit. Das hat mir meine Mama erklärt und seitdem warte ich sehnsüchtig auf die weißen Schneeflöckchen, die mir meinen Bruder bringen werden.

Im Zimmer sehe ich wie meine Mutter schon am Fenster steht und wie sie behutsam ihre linke Hand auf ihren kugelrunden Bauch gelegt hat. Sie dreht sich zu mir um, lächelt mich an und streckt ihre rechte Hand nach mir aus. Ein Lächeln huscht mir über mein Gesicht. Zu Beginn, als ich erfahren habe, dass ich einen Bruder kriege war ich ziemlich eifersüchtig, weil ich jetzt meine Mama und meinen Papa teilen muss. Doch meine Mutter versicherte mir, dass ich ihr Sonnenschein bin und ihre rechte Hand immer mir gehören wird. Mein Bruder soll ihr Mondschein sein und ihre linke Hand soll immer ihm gehören. Und meine Mutter hält immer ihr versprechen. Ich ergreife ihre rechte Hand und versuche mit ihr aus dem Fenster zu schauen, doch mein Gesicht erreicht lediglich die Fensterbank. Ich gebe auf und schaue traurig auf meine kleinen Füße. Wie will ich meinen Bruder in meinen Armen halten, wenn ich nicht einmal groß genug bin um aus dem Fenster zu schauen? Während ich mir den Kopf darüber zerbreche, wie ich ein großer Bruder sein will, wenn ich doch so klein bin, spüre ich wie sich jemand neben mich stellt. Ich blicke zur Seite und erblicke meinen Vater. Er muss meinen traurigen Blick gesehen haben, denn er lächelt mich kurz an und dann hebt er mich hoch und ich finde meinen Platz in seinen starken Armen. Wenn ich mal groß bin dann möchte ich genau so groß und stark sein wie mein Vater, denke ich mir. Wenn ich nur ein bisschen älter wäre, dann wäre das Ganze hier nicht einmal nötig.

Und während ich gedankenverloren über das Älterwerden nachdenke, vergesse ich mein eigentliches Vorhaben. Ich merke wie mich jemand in die Seite zwickt und entdecke meine Mutter, deren grünen Augen mich anstrahlen. Sie nickt zum Fenster und als ich mich dorthin wende kann ich meinen Augen kaum trauen.

Ich sehe, wie unser Garten sich unter einer weißen Decke versteckt hat. Durch das spärliche Licht der Straßenlaternen sehe ich, wie immer mehr Schneeflöckchen sich langsam von den Wolken lösen und sich ihren Weg auf die Erde suchen. Ganz langsam, fast schon so als ob sie tanzen würden, legen sie sich mal schnell mal langsam auf die Decke aus Schnee.

Ich kann meine Aufregung gar nicht für mich behalten, will am liebsten schnell in mein Zimmer, nein sogar in den Garten rennen um mich im Schnee zu wälzen. Doch da fällt mir ein, dass der Schnee mir doch eigentlich meinen Bruder bringen sollte. Meine Mama weiss schon was kommt, schaut mich mit ihrem wunderschönen Lächeln an, nickt mit ihrem Kopf und sagt mir, dass es bald soweit ist. Mein Papa, bietet mir an, dass wir in mein Zimmer gehen, ich mich umziehe und dann mit ihm in den Garten gehe. Meine Mutter sagt, dass sie sich später zu uns gesellen wird und somit verlassen wir den Raum. Während des Rausgehens, drehe ich mich noch um und sehe wie sie ein Stift und ein Papier in die Hand nimmt. Was sie wohl damit machen will... Doch lange halte ich mich nicht daran auf, ich will endlich raus!

Voller Begeisterung kleide ich mich in meine dicken Winterklamotten ein und kann es kaum abwarten mich nach draußen zu schmeißen und als Papa endlich auch bereit ist, öffnen wir die Tür zum Garten und begeben uns in die weiße Pracht.

Die Kälte färbt meine Wangen augenblicklich rot und ich spüre wie mich die Schneeflocken umtanzen. Meine Arme strecke ich so gut ich kann in die Richtung des Himmels, damit die weißen Flocken auf meinen Händen landen, doch nachdem ich sie mir anschaue merke ich, dass sie alle wieder geschmolzen sind. Wenn ich sie nicht fangen kann, dann sollte ich mit ihnen spielen. Und so beginnen wir eine Schneeballschlacht mit Papa, bauen einen Schneemann und machen Schneeengel. Das weiße Pulver fällt und fällt vom Himmel und es scheint so als ob es gar nicht mehr aufhören will. Es soll auch nicht aufhören, denn es macht mich glücklich. Zu wissen, dass mein Bruder nun endlich kommen wird und ich mit stolz verkünden kann, dass ich nicht mehr der kleinste in unserer Familie bin, beschert mir ein dickes Grinsen auf meinem Gesicht.

Nach einer Weile merke ich, dass meine Mutter uns oben vom Fenster ihres Schlafzimmers aus beobachtet. Ich frage mich, wie ein Mensch immerzu so schön lächeln kann. Sie strahlt solch eine Wärme aus, dass ich für einen Moment befürchte der Schnee könnte beginnen zu schmelzen. Ihre rechte Hand hebt sich und sie winkt mir zu und auch ich hebe meine Rechte und winke ihr, so doll es geht, zu. Sie lässt mir ein Küsschen zufliegen, ich fange es auf und lache so sehr, als ob es nichts lustigeres auf dieser Welt geben würde. Obwohl ich groß und stark sein möchte, möchte ich doch immer klein bleiben um die Luftküsse meiner Mutter zu fangen und in den Armen meines Vaters in Sicherheit zu sein. Denn ich weiss, dass wenn man älter wird, man keine Luftküsse mehr von der Mutter empfängt und auch nicht vom Vater umarmt wird, ich habe noch nie die Eltern von Mama und Papa sowas machen sehen. Ich habe auch noch nie die Mutter und den Vater meiner Eltern gesehen. Ich frage mich, ob es immer so sein wird wenn man älter wird...

Während ich so gedankenverloren vor mich hin grübel, höre ich wie die schönste Frau auf Erden nach mir und nach dem stärksten Mann auf Erden ruft. Sie sagt, sie hat heiße Schokolade für uns zubereitet. Für mich sogar mit viel Sahne und Kakaopulver. Normalerweise muss ich immer etwas essen bevor ich mich an Kakao beglücken darf, doch heute macht sie wohl eine Ausnahme. Vielleicht ist sie auch ganz aufgeregt, da bald mein Bruder zu uns kommen wird und macht daher diese großzügige Geste.

Während mein Vater und ich uns nun ins Wohnzimmer begeben und ich mir denke, dass dieser Tag gar nicht besser werden kann, hören wir plötzlich ein lautes Schreien aus der Küche. Es folgt augenblicklich ein Klirren und das Zerbersten einer Tasse und mein Vater rennt in die Küche. So schnell wie mich meine kleinen Beinchen tragen renne ich ihm hinterher und sehe etwas, was mir die Tränen in die Augen treibt. Meine Mama liegt auf dem Boden und Tränen verlassen ihre wunderschönen grünen Augen und rennen ihr über das Gesicht. Sie versucht zu lächeln und flüstert, dass es nun soweit ist. Jetzt erst merkte ich, dass ich gar nicht wusste wie mein Bruder auf die Welt kommen würde. Keinen einzigen Gedanken hatte ich daran verschwendet. Mein Vater rennt schnell nach oben, vorher ermahnt er mich bei meiner Mutter zu bleiben. Verstehen tat ich die Welt nicht mehr, aber ich wich nicht von ihrer Seite. Fest umklammerte ich ihre rechte Hand. Papa kam mit einer Tasche nun in die Küche gerannt, rief mir zu meine Jacke und meine Schuhe anzuziehen, nahm meine weinende Mutter in die Arme und wir verließen das Haus in Richtung der Garage, wo wir uns ins Auto setzten und Vollgas losfuhren. Und nun fing die Frau, die mir mein Leben gab und kurz davor war auch meinem Bruder das Leben zu schenken, an zu schreien. Ich hielt mit meinen Händen meine Ohren zu und zum ersten Mal bereute ich es, dass es angefangen hatte zu schneien. Ich hatte Angst, solch eine große Angst, welches nicht mal von der weißen Schneedecke hätte unterdrückt werden können. Nicht mal die tanzenden Schneeflocken hätten mir meine Angst nehmen können.

Hätte ich damals gewusst, dass mir der Schnee meinen Bruder bringen und meine Mutter nehmen würde, dann hätte ich mir gewünscht, dass es für immer regnet. Vielleicht hätte der Regen beide verschont.

Wenn das Schicksal das Leben zeichnetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt