Kapitel 35

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Frisch geduscht stand ihr Onkel vor ihr, anscheinend überrascht, auch sie um diese Uhrzeit wach vorzufinden. Schon länger hatte sie nicht mehr als vier, fünf Stunden schlafen können, meist lag sie mehrere Stunden einfach wach da und starrte gegen die Decke. Manchmal nutzte sie die Zeit auch und lernte, da es leider nicht funktioniert hatte, sich erst für die Elfte anzumelden, diese also zu wiederholen. Da der Prozess jedoch eh noch in diesem Schuljahr beginnen würde, stellte dieser hoffentlich nicht einen zu großen Stressfaktor da. ,,Und, was machst du?", erkundigte sich Moritz und deutete auf ihren Schreibtisch, welcher nun im Dunkeln lag. Mit einem knappen Schulterzucken erklärte sie: ,,Ich muss noch eine Klausur in Geschichte, Sozialkunde und Mathe schreiben, da kann ich schon einmal lernen. Johanna meinte, diese würden nicht so schwer werden, doch ich bin lieber vorbereitet." ,,11/2, das heißt, ihr nehmt gerade Weimarer Republik, NS-Diktatur und die Nachkriegszeit durch. Liege ich richtig?" Etwas verwundert darüber, das er den Lehrplan anscheinend fast auswendig kannte, nickte Charlie und ging wieder in ihr Zimmer zu ihrem Schreibtisch, ihr Onkel folgte ihr. ,,Ich kann nicht verstehen, wie niemand vor 1933 die Fehler in der Verfassung hatte erkennen können", dachte sie laut und deutete auf eine ihrer Zusammenfassungen. Um es besser lesen zu können, zog er das Blatt zu sich heran, doch das würde nicht sonderlich viel bringen. ,,Sorry wegen der Handschrift. Passt zu meinem Berufswunsch."

Schlussendlich debattierten sie eher über die Auswirkungen des Krieges und des Holocausts, anstatt sich mit den Ursachen zu beschäftigen. ,,Wie können manche Deppen noch immer an das Zeug glauben? Nach allem, was passiert ist?" Charlie vermutete, dass ihr Onkel schon häufiger mit solchen Menschen zu tun hatte und vielleicht gab es dazu eine mögliche Antwort. ,,Da kannst du genauso gut fragen, wieso es schlechte Menschen gibt. Es gibt keine Antwort darauf. Schau dir allein mal unsere Familie an", kam nur von ihm, während er sich in den Schreibtischstuhl lehnte. Sie selbst saß auf ihrem Bett, der Rücken gegen die Wand. ,,Deine Mutter, meine Mutter. Es macht einen verrückt, da nach einem Sinn zu suchen." ,,Dennoch, es lässt mich nicht los. Wieso? Wieso tut man so etwas? Wie wird ein Mensch so?", bohrte Charlie nach, endlich Antworten fordernd, doch mehr als Schulterzucken konnte ihr Onkel nicht erwidern. ,,Das weiß ich nicht. Die typische Herangehensweise mit ,hatte ne verkorkste Kindheit' greift nicht immer. Nimm Kim als Beispiel, oder dich." ,,Und du?", setzte sie sofort nach, etwas verwundert, wieso er sich nicht aufgezählt hatte: ,,Du bist doch auch einer der Guten." Bevor er antwortete, ließ Moritz zuvor noch ein paar Sekunden verstreifen: ,,Ich gebe zumindest mein Bestes." ,,Ich denke schon, dass du ein guter Mensch bist." ,,Danke", murmelte ihr Onkel leise, bevor er leicht zur Tür sah: ,,Ohne Kim und die Anderen wäre ich wahrscheinlich wie mein Bruder geendet." Wieder merkte Charlie, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete und traurig blickte sie auf ihre Hände. Auch wenn Moritz und Kim ihr Bestes gaben, um ihr eine sichere Umgebung, ein Zuhause zu geben, sie wusste nicht, ob dies je für sie möglich wäre. Auch wenn er sein bestes gab, um eine Vertrauensperson für sie zu sein, sie traute sich nicht. Sie hatte gesehen, wie schnell alles verschwinden konnte, wie Menschen plötzlich aus ihrem Leben gerissen wurden oder freiwillig gegangen waren. Es war schwer, sich wieder auf jemanden zu verlassen, jemandem zu vertrauen. Besonders, wenn man sie nicht lang kannte.

Wieder klopfte es an ihrer Tür und als sie sich diesmal öffnete, stand Kim dahinter. ,,Hier bist du also. Guten Morgen, Charlie", grüßte sie die Beiden und wartete, bis Charlie ihr ohne Worte erlaubte, hereinzutreten. Dieses kleine Gefühl der Privatsphäre, es war unglaublich und sie liebte es. ,,Na, was macht ihr beiden? Es ist gerade einmal sechs Uhr", erkundigte sich die Kommissarin, bevor sie zu Moritz ging und ihre Arme auf seinen Schultern ablegte. Kurz küsste sie ihn auf die Stirn, ein strahlendes Lächeln erschien auf seinen Lippen, dann blickte sie auf den Schreibtisch und somit die Notizen. ,,Ich bin also nicht die Einzige, die mal eine Geschichtsstunde von unserem Professor Brenner kriegt", scherzte sie, was tatsächlich beide zum Lachen brachte. Leise ertönte ein Piepsen von der Küche her und nachdem Kim erneut Moritz einen Kuss auf die Stirn gab, fragte sie indirekt: ,,Hoffentlich habt ihr Hunger. Ich habe ein paar alte Brötchen aufgewärmt." Um das Piepsen zu beenden, ging Kim in die Küche und Charlie musste breit grinsen, als sie sah, wie ihr Onkel der Frau hinterher sah. ,,Du bist echt Hals über Kopf in sie verknallt, oder?" Ein Schmunzeln erschien auf seinem Gesicht und schon nickte er. ,,Ja, so könnte man es sagen. Sie ist einfach unglaublich." ,,Übrigens, du hast da was", wies sie ihn auf etwas auf seinem Hals hin und nach einem kurzen Blick in den kleinen Spiegel, bedeckte er peinlich berührt den Knutschfleck an seinem Hals. ,,Vielleicht solltest du doch einen Rollkragenpulli oder so anziehen. Falls du nicht möchtest, dass Fragen von deinen Kollegen kommen." Sie machte sich einen fürchterlichen Spaß aus der Sache und mit ihm konnte sie solche Witze auch machen. ,,Deine große Klappe macht dich glatt liebenswert", entgegnete er nur, stand auf und wuschelte ihr kurz durch die Haare. ,,Komm, lassen wir Kim nicht weiter warten."

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