2. Verlassen

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Hermine erwachte im seichten Schein des Sonnenlichts, das durch eines der Fenster in der Kerkerwand fiel. Das Licht war leicht meergrün getönt, kam es doch direkt vom schwarzen See. Für einen kleinen Moment war die Welt, ihre Welt, wieder in Ordnung. Noch war sie nicht ganz wach, noch fühlte sie die Wärme des Umhangs um sich, wie eine tröstende Umarmung und hatte seinen Geruch in der Nase. Für einen Moment war er noch bei ihr, für einen Moment war er nicht tot - bis die Ereignisse der vorangegangenen Nacht wieder zu ihr zurückkehrten und das Loch in ihrem Herzen wieder aufriss. Sie fühlte sich taub und allein und ihre Muskeln schmerzten von den Strapazen der Schlacht und dem Schlafen auf dem kalten und harten Boden. Aber die Tränen waren vorerst versiegt, sie hatte sie alle verbraucht und vorerst keine mehr. Also richtete sie sich mühsam auf und sah sich aus verquollenen Augen um.
Seine Räume wirken so ganz anders als in der Nacht. Sie war nie bei Tageslicht in seinen Räumen gewesen, denn die Tatsache, dass Severus und sie eigentlich eine Lehrer-Schüler-Beziehung hätten haben sollen, verhinderte das. Mehr als heimliche Treffen hinter verschlossenen Türen, wenn die meisten Schüler sich ohnehin bereits in ihren Gemeinschaftsräumen befanden, waren nicht möglich gewesen - jedenfalls nicht, wenn sie nicht unter dem Deckmantel des Nachsitzens stattfanden. Durch die Geheimniskrämerei war ihnen nur noch mehr von der ohnehin knapp bemessenen Zeit zusammen geraubt worden. Wie gerne hätte sie gewusst, wie es sich anfühlte, neben ihm einzuschlafen und neben ihm aufzuwachen; wenn sein Gesicht das letzte und das erste wäre, was sie an jedem Tag gesehen hätte. Wie wäre es wohl gewesen, einen Morgen mit ihm zu verbringen? Würden sie nur stumm gemeinsam Zeitung lesen oder würden sie über Zaubertränke oder Bücher sprechen? War er überhaupt ein Morgenmensch? Sie würde es nie erfahren. Sie strich sich durch die wirren Locken, die nach den letzten achtundvierzig Stunden nun komplett verknotet waren. Auch bemerkte sie jetzt erst so wirklich den Zustand ihrer Kleidung. Sie trug noch immer die verdreckten Klamotten der Schlacht. Das Sweatshirt hatte einige Flecken an den Ärmeln und war teilweise eingerissen. Die Bluse darunter roch nach Schweiß und hatte Staubflecken. Ihr Blick glitt weiter hinab zu ihrer Jeans und den rostroten Abdrücken auf den Oberschenkeln, wo sie ihre Hände abgewischt hatte. Es war sein Blut, das dort klebte und der Schmerz in ihrer Brust schwoll wieder an.
Aber für den Moment musste sie sich zusammenreißen. Sie konnte nicht hier bleiben, so gerne sie das auch wollte. Irgendwann würde man sie hier finden und sie zwingen sich zu erklären, und das wollte sie nicht. Niemand würde es verstehen. Über kurz oder lang musste sie zurück zu ihren Freunden, die sich sicher bereits fragten, wo sie war und sie konnte nicht in diesem Zustand zurück. Sie wollte nicht der Grund sein, dass sie sich mehr sorgten als nötig. Du schaffst das, redete sie sich gut zu, Sev würde das nicht wollen. Er würde nicht wollen, dass du in diesem Zustand auf seinem Teppich liegst und in den Schmerzen ertrinkst. Ein paar Mal wiederholte sie diese Worte im Kopf und erhob sich schließlich langsam. Sein Umhang glitt von ihren Schultern und sie wollte sofort wieder anfangen zu weinen. Hermine atmete tief durch und verschloss das Gefühl tief in sich und überlegte, ob sie es wagen konnte, sein Bad zu benutzen, um sich immerhin einigermaßen wieder herzurichten. Sie kam sich vor wie ein Eindringling, als würde sie seine Privatsphäre verletzen, wenn sie sich weiter in seine Räume vor wagte, wenn sie den Teppich verließ. Am Vortag hatte sie darüber nicht nachgedacht und nur seine Nähe irgendwie spüren wollen, aber jetzt schämte sie sich ein wenig, hier einfach eingedrungen zu sein. "Egal was passiert, für dich wird hier immer ein sicherer Hafen sein. Du kannst immer hierher kommen", hatte er ihr einmal gesagt und hoffte, dass die Worte auch jetzt noch galten. Sicher war es ihm sogar lieber, dass sie hier war, als irgendwo sonst. Severus würde wissen, dass sie nicht hier war, um in seinen Sachen zu wühlen, sondern weil sie ihn und seine Nähe gebraucht hatte. Langsam trat sie vor in Richtung des kleinen Durchgangs, hinter dem ein kleiner Flur und sowohl sein Schlafzimmer als auch das Bad lagen. An der Tür zog sie sich die Schuhe aus, um nicht den ganzen Dreck in seinen Räumen zu verteilen und sah auf die Tür zu seinem Schlafzimmer. Sie wusste, dass er dort in einer Kommode die Handtücher aufbewahrte, denn sie hatte sich nach einem Missgeschick im Labor schon einmal hier in seinem Bad waschen müssen. Erst vier Mal war sie zuvor in seinem Schlafzimmer gewesen. Es würde der Raum sein, der sie am meisten an ihn erinnern würde, wo sein Geruch am präsentesten wäre und wo einige ihrer schönsten Erinnerungen stattgefunden hatten. Mit zitternden Händen griff sie nach der Klinke und stieß die dunkle Holztür einen Spalt weit auf, gerade weit genug, um hindurch gehen zu können. Eine Welle von Schmerz spülte über sie hinweg, als sie den Geruch in sich aufsog und ihr Blick auf die dunkelgrauen Bettlaken fiel. Um dem nicht länger ausgesetzt zu sein, beeilte sie sich zu der Kommode zu kommen und zog hastig die mittlere Schublade auf und griff einfach nach dem Handtuch, das oben auf lag. Sie wollte nicht zu lange in diesem Raum bleiben, denn es tat weh. Als sie jedoch das Handtuch mit einem Ruck hervorzog, raschelte es in der Schublade und etwas kleines Schwarzes blitzte für einen Moment auf. Stirnrunzelnd beugte sie sich vor und sah, dass eine kleine Holzbox, nicht viel größer und schwerer als ein Hühnerei, zwischen den Handtüchern gelegen hatte, die nun vor den Stapel gerutscht war. Was hatte er hier versteckt gehabt? Sie war neugierig, aber sie beschloss, dass er sicher nicht wollte, dass sie sie einfach öffnete. Er mochte nicht mehr da sein, aber sie würde sich dennoch verhalten, als wäre er noch hier. Also nahm sie sie nur für einen Moment in die Hand und schob sie wieder zwischen die Handtücher, bevor sie die Schublade wieder zu schob und machte sich mit dem Handtuch auf den Weg ins Bad. Dort entledigte sie sich schnell der verdreckten Sachen und trat unter die Dusche. Das warme Wasser löste ihre verspannten Muskeln ein wenig und für einen Moment blieb sie einfach nur stumm und reglos unter dem heißen Strahl stehen. Erst als sie fühlte, wie ihre Gedanken abdriften und Tränen in ihren Augen aufsteigen, rührte sie sich wieder, um ihre Hände beschäftigt zu halten und so ihre Gedanken im Zaum zu halten. Der Geruch des Shampoos war gleichzeitig tröstend und schmerzhaft, als sie sich mit mechanischen Bewegungen die Haare wusch und anschließend den Körper. Von jetzt an, würde bis zu ihrer nächsten Dusche sein Shampoo Geruch in ihren Haaren hängen und sie wusste nicht, ob sie das lange ertragen würde. Hermine war hin und her gerissen, in ihrem Wunsch, das alles von sich zu schieben und gleichzeitig ihn und die Erinnerungen an ihn möglichst nah bei sich zu halten. Vermutlich würde es jetzt für immer so sein. Nie wieder würde sie Sandelholz oder Kiefern riechen und nicht an ihn denken können. Nie wieder, das schienen die Worte zu sein, die ab jetzt alles prägen würden. Denn sie würde so vieles nie mehr erleben.
Nachdem sie schließlich das Wasser abgestellt und sich abgetrocknet hatte, sah sie missmutig auf ihre Kleidung hinab. Alles in ihr sträubte sich, wieder in diese verdreckten Klamotten zu steigen, die mit seinem Blut besudelt waren. Zudem, so stellte sie jetzt erst fest, hatte sie den Zauberstab im Grimmauld Place liegen lassen. Sie konnte sie nicht einmal magisch säubern. Ihr Blick fiel auf den flauschigen schwarzen Bademantel, der an der Badezimmertür hing und sie entschied, dass sie ihn erstmal anziehen könnte, bis sie sich überlegt hatte, wie sie ihre Kleidung sauber bekommen sollte. Aber vermutlich kam sie nicht darum herum, sie im Waschbecken notdürftig auszuwaschen und anschließend am Kamin zu trocknen.

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