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⌜(ν/и)ѕ ѕιϲнτ⌟

Gemütlich schlenderte ich durch die verwaisten engen Gassen, dessen Boden voller zerfetzten Kleiderstücken übersäht waren. Nach allen hundert Metern lehnten an den Hauswänden Menschen, die entweder kurz vorm sterben waren oder die schon längst nicht mehr in ihrem Körper weihten.

Der Anblick war schrecklich und beschaffte mir nach wie vor Albträume die mich in der Nacht wachhielten und mich von der einen auf die andere Seite rollen ließen, bis ich es schließlich aufgab noch Schlaf zu finden. Doch ich zeigte schon lange keine Reaktionen mehr, dafür war es ein viel zu gewöhnlicher Anblick, den der Untergrund einem bot.

Ich lebte hier schon seit meinem neunten Lebensjahr. Ich war nun neunzehn Jahre jung. Zehn Jahre später und mich konnte hier unten nichts mehr schocken. Ich erinnerte mich auch kaum noch an das Leben an der Oberfläche, an der ich geboren wurde. Ich erinnerte mich bloß an das kleine Häusschen, in welchem meine Mutter, mein Vater und ich gelebt hatten und einigen Momenten aus dem Alltag. 

Unser Leben war purer Frieden gewesen. Ein schönes Haus, eine schöne Umgebung, eine glückliche Familie. So war zumindest meine Sicht auf die Dinge gewesen, doch später wusste ich, dass meine Mutter litt und unser Familiendasein so gar nicht perfekt war.
Damals hatte ich das noch nicht verstehen können. Ich dachte meine Mutter würde meinen Vater auch bloß vermissen, so wie ich es getan hatte. Jedoch hatte ich nicht darunter gelitten, wenn mein Vater länger nicht zu Hause war. Bei meiner Mutter schien das anders gewesen zu sein.

Mein Vater war damals nämlich Soldat im Aufklärungstrupp. Ich wusste nicht viel über diese Division, nur, dass sie sich den Titanen entgegenstellten. Hirnrissig. Dämlich. Lebensmüde.
Das war die Ansicht meiner Mutter gewesen. Sie hatte darunter gelitten, dass mein Vater sich immer und immer wieder solch einer Gefahr aussetzte. Dass er lieber für die Menschheit kämpfte, anstatt bei seiner Familie zu sein.

Wie gesagt, wir hatten ein recht friedvolles Leben. Bis es zu dem schlimmsten Tag kam, der meiner Mutter den Boden unter den Füßen weggerissen hatte. Sie war gefallen und hatte mich mit sich gerissen.
Mein Vater starb bei einem Einsatz außerhalb der Mauern. Alles, was man meiner Mutter noch bringen konnte, war seine Jacke, die voller Blut gewesen war, zerrissen, dreckig.

Meine Mutter hatte geweint. Wochenlang ließ sie sich gehen, kümmerte sich um nichts. Nicht einmal um mich. Sie war eine leere Hülle, die um einen Menschen trauerte, der gegangen war. Den sie geliebt hatte.

Und was sollte ein kleines Mädchen schon machen? Auch ich hatte verstanden, dass mein Vater nicht mehr zurückkommen würde und auch hatte ich den Zustand meiner Mutter verstanden. Immerhin hatte sich auch in mir alles zusammengezogen und geweint hatte ich auch.

Aber meine Mutter trösten konnte ich nicht. Ich wusste nicht wie, da ich selber auch trauerte. Ich hatte zwar nie so einen engen Draht zu meinem Vater wie zu meiner Mutter gehabt, aber er war Papa gewesen und auch bei mir hatte das Spuren hinterlassen. Doch meine Wunden waren nicht so tief und schlimm wie die von ihr. Und ich alleine konnte sie nicht dazu bewegen nach vorne zu blicken, zu versuchen mit der Trauer umzugehen und mit dem Leben weiterzumachen.

Ich hatte nichts tun können, außer immer wieder zu sagen, dass ich Hunger hatte und dass keine saubere Wäsche mehr da war. Ab und zu hatte sie versucht mir ein Lächeln zuzuwerfen und sich schließlich aufzuraffen, um ihrer Tochter einen Apfel zu schälen, doch es gab auch Tage, da hatte sie mich nicht einmal wahrgenommen.

Irgendwann war ich deprimiert. Ich wollte meine alte Mama zurück. Die, die mich mit sich hertrug, mit mir spielte und lachte, mir Dinge beibrachte und für mich da war, mir Küsschen auf die Wange gab und mich ins Bett brachte, meine Haare kämmte und mir schöne Kleider nähte.

Wochenlang hatte ich Hoffnung, dass sich ihr Zustand besserte, dass es ihr bald wieder besser ging und wir endlich zusammen trauern konnten, anstatt jeder für sich allein. Allerdings verflog meine Hoffnung, als wir die ersten schlechten Nachrichten bekamen.

Mama verlor ihren Job in der Schneiderei.
Mama bezahlte keine einzige Steuer.
Mama vernachlässigte Termine.
Mama hatte kein Geld mehr. Weder für die steigenden Rechnungen, noch für Essen und Trinken.
Mama und ich verloren das Haus. Unser Zuhause.

Und dann wurden wir in den Untergrund abgeschoben. Ohne alles. Ohne Essen, ohne Trinken, ohne Klamotten, ohne Erinnerungsstücke aus unserem alten Zuhause.
Nur das, was wir bei uns trugen durften wir mitnehmen. Heißt; unsere Klamotten, die wir am Körper trugen, mein Kuscheltier unterm Arm, Papas verdreckte Jacke.

Ich fand zurück in die Gegenwart und drückte eine Tür auf, die zu einem kleinen Haus gehörte, dessen Fassade schon lange am bröckeln war. Es war staubig, weswegen sich augenblicklich das Kratzen in meiner Kehle meldete und das Kitzeln in meiner Nase begann.
„Hatschi!"
Damals hatte meine Mutter regelmäßig geputzt, da ich eine lästige Stauballergie hatte. Hier unten nahm das blitzblanke Leben ein Ende. Was wollte man hier unten schon groß putzen? Wenn müsste man die ganze Untergrundstadt auf Vordermann bringen.

Unmöglich eben. Deshalb musste ich leider damit leben mehrmals am Tag einen Niesanfall nach dem anderen zu bekommen und dauerhaft schlecht Luft einzuatmen.
Wenigstens in meinem neuem Zuhause war es nicht ganz so staubig, so oft wie dort geputzt wurde. Ich glaubte zwar nicht, dass mein Mitbewohner es mir zu liebe tat, dennoch profitierte ich davon. Dass er einen Putzfimmel hatte kam mir nur zugute. Ohne es bösartig zu meinen.

Ich befand mich nun in dem Loch, wo meine Mutter und ich einst noch zusammen gelebt hatten und setzte mich auf einen Stuhl, der protestierend knarzte. Lange würde der nicht mehr stehen, das war sicher.
Aus meiner Hosentasche holte ich ein kleines Buch heraus, dessen Lederzug ranzig und fransig war. Mein Tagebuch, das ich damals ebenfalls mit in den Untergrund genommen hatte.

Wenn ich heute die Zeilen las, die ich damals geschrieben hatte, als alles noch...in Ordnung war, konnte ich nur meine Augenbrauen zusammenziehen. Kleine, banale und unwichtige Dinge standen dort drin geschrieben, über die ich mir heute keine Gedanken mehr machte.

Was interessierte es mich jetzt noch, dass meine Lehrerin Frau Kohler mir mit einem Stock auf die Finger gehauenen hatte? Oder sich meine Eltern stritten? Dass Finn, ein blöder Junge aus meiner damaligen Klasse fies zu mir war und mir immer an den Haaren zog?

Ich blätterte weiter und je näher ich den aktuelleren Seiten kam, desto länger wurden meine Einträge. Ich schrieb nicht jeden Tag hinein. Ich ließ manchmal eine Woche oder gleich mehrere vergehen und dann schrieb ich auf, wie ich mich über all die Tage gefühlt hatte und was geschehen war.

Die Seiten hatten alle etwas gemeinsam. Sie alle endeten mit einem kurzen Brief an meine Mutter.
Ich tat das nicht, weil ich mir einbildete sie wäre noch hier und würde sich das durchlesen. Ich tat es einfach nur deswegen, weil ich...doch irgendwie hoffte, dass die Worte irgendwie bei ihr ankamen.

Lächerlich, ich weiß. Ich fand es selbst total bescheuert, dass ich hier her zurückkehrte, bei jedem einzelnen Eintrag in mein Tagebuch. Weil ich hier die letzte Zeit mit meiner Mutter verbracht hatte.

Hier unten holte sie sich eine Krankheit und starb. Es war traumatisierend seine eigene Mutter sterben zu sehen, auch wenn es weniger brutal war. Sie wurde immerhin nicht ermordet. Und leiden gesehen hatte ich sie schon immer.
Doch ihr beim Abbauen der Körpermasse zuzusehen, wie sie daher lebte oder eher nicht lebte. Und wie sie dann einfach die Augen schloss und nichts mehr sagte.

Dass sie sich nie von mir verabschiedet hatte - ich glaube das war das Schlimmste für mich. Kein Tschüss Engelchen. Kein Pass auf dich auf. Kein Ich beschütze dich. Kein Ich hab dich lieb und werde immer bei dir bleiben.
Nein. Einfach nur absolute Stille.

Ich schrieb den Brief an meine Mutter zu Ende und hauchte einen Kuss auf die Seite.
Ich denke an dich, Mama. Bis zum nächsten Mal.
- (v/n)

1318 Wörter
ﮩ٨ـﮩﮩ٨ـﮩ٨ـﮩﮩ٨ـ



⌜γου οи мγ ѕι∂є ιѕ αℓℓ ι иєє∂⌟ ˡᵉᵛⁱ ˣ ʳᵉᵃᵈᵉʳWo Geschichten leben. Entdecke jetzt