Eine Hand...

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„Ach, komm schon, Nicooo! Biiitte! Tu's für miiich..." bettelte er. Tim hatte seinen Hundeblick aufgesetzt und schaute sie hilfesuchend an.

Als Nicola am Mittag ihres ersten Urlaubstages mit den Einkäufen die gemeinsame Wohnung betrat, vernahm sie Tims aufgeregte Stimme. Sie zog sich die Schuhe aus und begab sich in die Küche. Auf dem Weg dahin entdeckte sie ihn, wie er vor der geöffneten Balkontür mit seinem Handy am Ohr auf und ab lief. Er schien sie gar nicht zu bemerken. Sie stellte die beiden Taschen neben dem Tisch ab.

„Ja, ich lasse mir was einfallen. Tschüss." Sein Telefonat schien beendet zu sein.

‚Das konnte doch wohl nicht wahr sein.' Er fuhr sich aufgeregt durch die Haare. Angespannt lief er in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen, war mit seinen Gedanken beschäftigt und erschrak sich demnach umso mehr, als er plötzlich jemanden am Tisch sitzen sah. „Oh Nico, hast du mich gerade erschreckt! Warum sagst du denn nichts?" Sie warf ihm einen amüsierten Blick zu. Er setzte sich zu ihr an den Tisch und entdeckte die zwei Einkaufstaschen. „Danke übrigens für's Einkaufen. Du hast mir damit echt ein bisschen Zeit verschafft. Wie viel kriegst du?" „Gute Frage, da muss ich später nochmal nachschauen." Er nickte ihr dankbar zu. „Alles in Ordnung bei dir? Du klangst eben ziemlich gestresst." Er atmete hörbar aus. Kurz zuvor hatte ihn seine Chefin angerufen und ihm einen Auftrag aufgedrückt, den es heute noch zu erledigen galt.

Um sein Studium zu finanzieren, arbeitete Tim bei einer Cateringfirma, fuhr die Speisen zu Kund:innen, kümmerte sich vor Ort um die Betreuung der Verpflegung. Ausgerechnet heute war sein Kollege krank geworden, ein Groß-Event stand an und er wurde dazu verdonnert einzuspringen. Heute, wo er doch eine wichtige Klausur zu schreiben hatte, die er keinesfalls verschieben konnte. Doch das interessierte seine Chefin absolut nicht. ‚Er solle sich etwas einfallen lassen oder er brauche in Zukunft nicht mehr dort aufzukreuzen' hatte sie ihm wütend erwidert und ihn somit in die Ecke gedrängt. Er war schließlich auf seinen Job angewiesen.

Sie schaute ihn mitleidig an. Ihr war bewusst, in welcher Zwickmühle er sich befand, aber sie konnte doch nicht schon wieder bei seinem Job für ihn einspringen... – Nicht heute. Tim schaute sie an und verzog seine Lippen zu einem Schmollmund.

„Vergiss es." „Ich weiß, du wolltest heute schon etwas früher losfahren, aber.." hörte sie ihn herumdrucksen. „Nein Timmy, das passt mir heute absolut nicht. Du weißt, dass ich mir extra Urlaub genommen habe, um nach Hause zu fahren. Das steht schon eine ganze Weile. Du musst dir wohl was anderes überlegen." Sie wollte ihre ganzen Pläne nicht umwerfen. „Aber-" „Nein nichts „Aber"! Heute geht wirklich nicht!" machte sie ihm unmissverständlich klar. Die immer größer werdende Verzweiflung in seinen Augen entging ihr jedoch nicht. „Außerdem ist der Zug auch schon gebucht." sagte sie mit leiser Stimme und ihr Blick sank auf die Tischplatte. Ein kurzes Schweigen legte sich über die beiden, bis Tim das Wort ergriff. „Vorschlag: Du springst für mich heute ein und ich..." „Und du?" unterbrach sie ihn. „Und ich..." setzte er erneut an „übernehme für eine Woche deinen Putzdienst." Sie schaute ihn ungläubig an. „Zwei Wochen?" „Das ist doch nicht dein Ernst!" erwiderte sie belustigt. „Ok, einen Monat! Und ich gehe für uns einkaufen. Und dein neues Ticket bezahle ich selbstverständlich auch!" Sie wusste, dass er ihre Hilfe brauchte. Und er merkte, dass sie zu zögern begann. Er witterte seine Chance: „Ach, komm schon, Nicooo! Biiitte! Tu's für miiich..." bettelte er. Tim hatte seinen Hundeblick aufgesetzt und blickte sie hilfesuchend an. „Wann musst du los zur Klausur?" Er wusste, was das bedeutete. Sie würde es machen. „Du bist meine Rettung!" jubelte er schon fast und strahlte wie ein Honigkuchenpferd. „Ich weiß." Erwiderte sie nüchtern. Kurz darauf zogen sich ihre Mundwinkel zu einem sanftem Lächeln nach oben. Er erinnert sich an ihre Frage und blickte auf die Uhr an seinem Handgelenk. „Was schon so spät?" stieß er erschrocken hervor. Seine Bahn ging in 7 Minuten. ,Wo ist die Zeit denn nur so schnell hin?' „Jetzt" stieß er aus und lief schnellen Schrittes in den Flur. Sie folgte ihm und schaute ihm belustigt dabei zu, wie er viel zu hastig versuchte, seine Schuhe anzuziehen. „Du bist die Beste. Du hast auf jeden Fall was gut bei mir!" versicherte er ihr, während er gestresst auf einem Bein durch den Flur hüpfte, um seinen Schuh über die Ferse zu ziehen. Als er das endlich geschafft hatte zog er sie in eine kurze Umarmung und drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wang. „Jetzt geh schon, sonst kommst du noch zu spät." Nico ging zur Tür und öffnete sie, während Tim sich seinen Rucksack schnappte und diesen über eine Schulter warf. Er ging auf Nico zu, die sich an der Tür anlehnte und ihn amüsiert beobachtete. „Danke dir! Wirklich!" „Jaja... los jetzt!" Er sprintete durch die Tür ins Treppenhaus und die ersten Stufen hinunter als sie ihm zurief „Aber über unseren Deal müssen wir nochmal sprechen!" Er blieb kurz stehen, dreht sich um, schaute zu ihr auf und grinste sie an. Er setzte sich in Bewegung, verschwand aus ihrem Blickfeld. „Viel Glück!" rief sie ihm noch hinterher. „Danke!" erwiderte er ehe sie kurz darauf die schwere Haustür ins Schloss fallen hörte.

Sonnenblume für dich ~ Annalena BaerbockWo Geschichten leben. Entdecke jetzt