Kapitel 3

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Cassie

Es gab viele Momente, in denen ich froh war, kein Junge zu sein. Einer von ihnen war der Abend meines ersten Tages des Schuljahres.

Wäre ich ein Junge, wären mir bei diesen Temperaturen bestimmt meine Eier eingefroren.

Der kühle Nachtwind peitschte mir in mein Gesicht und selbst beide Kapuzen meines Hoodies und meiner Jacke ließen mich nicht wärmer werden, während ich durch mein Fenster kletterte.

Geschickt hangelte ich mich von meinem Fensterbrett auf die Rohre der Regenrinne. Anschließend rutschte ich an ihr herunter, wie ein Feuerwehrmann in Filmen.

Vielleicht hätte ich mir Gedanken gemacht, ob die Rohre fest genug waren, um einen sechzehnjährigen Menschen zu halten, hätte ich das hier nicht schon tausende Male getan. Deswegen wusste ich auch, dass an unserem Nachbarhaus zu diesem Zeitpunkt meine beste Freundin ebenfalls auf dem Boden angekommen sein musste.

Wie gesagt, wir hatten uns schon sehr oft auf diese exakte Weise aus dem Haus geschlichen. Als nun also eine komplett in schwarz gekleidete, 1.65 Meter große Person auf mich zukam, wusste ich genau, wer es war.

Sie nickte mir als Grüßung zu und ohne ein Wort miteinander zu reden, machten wir uns auf den Weg zu ihrer offenen Garage, wo eine schwarze Harley und zwei Helme auf uns warteten. Wir schoben sie zusammen so leise wie möglich auf die Straße, schlossen das Garagentor hinter uns, setzten unsere Helme auf und schon waren wir auf den Weg zu- Wohin gingen wir überhaupt?

Als ich versuchte diese Frage zu stellen, bekam ich jedoch leider keine Antwort, da man mich über diesen extremen Windstoß nicht verstehen konnte.

Ich würde es ja wohl früher oder später herausfinden.

...

„Das ist nicht dein Ernst."

Doch anhand ihres gewissenhaftendes Blickes schien sie es völlig ernst zu meinen.

Die Fahrt hierher hatte länger gedauert als sonst, was mich schon verdächtig hätte machen sollen. Was ich trotzdem nicht erwartet hatte war, dass Ruth mich hier hin bringen würde. In das reichste Viertel der Stadt, vor eine Statue eines Mannes auf einem Pferd.

Archibald the || stand auf dem kleinen Goldenen Wappen auf der Statue. Archibald war der Gründer unserer Stadt. Unglaublich reich, unglaublich mächtig und, meines Wissens der Geschichte unserer Stadt nach, ein unglaublich großes Arschloch.

Er war, wie viele reichen Leute seines Jahrhunderts, Besitzer von vielen Bediensteten und Sklaven. Bedienstete und Sklaven, die unter seiner Aufsicht unmenschliche Lebensbedingungen ertragen mussten und folglich starben. Ein Detail was von den meisten Einwohnern unserer Stadt, den reicheren Individuen im Besonderen, gerne übersehen wurde, wenn sie ihn rückgratlos verehrten.

Natürlich gehörte ich zu letzterem nicht dazu und es hatte mich schon immer wütend gemacht, jedoch hatte ich noch nie daran gedacht diese Wut an der Statue von Archibald auszulassen. Meine beste Freundin offensichtlich schon.

„Du willst doch nicht ernsthaft, dass wir die Statue besprühen. Warum sollten wir das machen?"

Ruth ließ sich nicht beirren. „Macht es dich nicht auch immer wütend, wenn du hörst, wie die reichen Schnösel ihm seinen toten Arsch küssen?" Ich schnaubte.

„Ruth, du bist selber reich."

„Nicht so reich", erwiderte sie trotzig.

„Stell dir vor, das kommt raus, dass wir das waren. Wir werden kalt gemacht."

Vor meinem inneren Auge sah ich uns schon, wie wir vor den Einwohnern der Stadt wegliefen, die uns mit Fackeln verfolgten und immer wieder riefen: „Verbrennt die Hexen!" ... Gut vielleicht hatte ich ein wenig zu viele alte Filme geguckt und es würde nicht genau so passieren, aber wer weiß. Archibald the || wurde wirklich von unserer Stadt verehrt. Wir hatten sogar einen Feiertag, der nach ihm benannt war.

„Ja, stell dir vor, das kommt raus...", sagte sie grinsend. Ich hatte eine schlechte Vorahnung.

"Stell dir vor, wie wütend die Leute wären.
Vorallem eine bestimmte Anwältin, die es gerne mag ihre Tochter zu ignorieren, wenn sie nicht gerade versucht ihr Leben zu bestimmen.."

Und damit hatte sie ins Schwarze getroffen. Meiner Mutter eins reinzudrücken, war wirklich eine Motivation, bei der sich sogar eine Verfolgungsjagd mit Fackeln lohnen würde.

Missmutig grinste ich sie an. „Hol die Farben raus. Wir besprühen heute ein Jahrhunderte altes Denkmal."

...

Ich trat einen Schritt zurück um unser Meisterwerk zu betrachten. Wir hatten gar keine schlechte Arbeit verrichtet. Das Denkmal erinnerte nicht mehr annähernd an eine Statue an Archibald. Man konnte ihn kaum noch erkennen unter verschiedenen Graffiti Designs. Am meisten stach die Schrift auf seinem Gesicht heraus auf der Stand: Fuck Archibald.

„Wir sind noch nicht ganz fertig", sagte Ruth. „Ich habe noch Gliternde Farbe in meiner-"

Sie wurde durch eine männliche Stimme unterbrochen, die rief: „Was wird das?" Die Stimme gehörte zu einer Silhouette einige Meter von uns entfernt. Ich stieß einen leichten Schrei aus und
wie von einer Biene gestochen, rannten wir zum Motorrad und noch bevor die Person uns errichen konnte, umfasste Ruth den Gasgriff und wir waren weg.

Der Wind hatte sich etwas gelegt, weswegen ich Ruth einige Minuten später sagen hören konnte: „Hast du dir in die Hosen gemacht?" „Was?" „Naja, bei dem Schrei den du rausgelassen hast musstest du ja wirklich Schiss gehabt haben."

Das war nicht ihr Ernst. Wir wurden fast dabei erwischt, wie wir das wichtigste  Denkmal unserer Stadt beschädigen und sie lacht mich aus.

„Denkst du er hat uns gesehen?"

„Ach, was. Wir waren zu schnell weg. Aber vielleicht erkennt er deinen Schrei wieder, also Versuch in nächster Zeit vielleicht ein bisschen ruhiger zu leben. Ein neues Hobby finden.. Ich hab gehört Stricken ist eine beliebte Leidenschaft bei  Damen in deinem Alter."

Ich grummelte und zwickte ihr Leicht in die Seite.

„Pizza geht heute auf mich, Cass. Ich will ja nicht, dass du zu deinem leichten Herzinfarkt noch einen niedrigen Cholesterinspiegel kriegst."

Ich grinste wieder, als ich sagte: „Fick dich, Ruth."

...

Am nächsten Morgen, als ich beim Frühstück saß, dachte ich immer noch an die Pizza von gestern. Mein Magen knurrte als ich in meinen Apfel biss.

Zu meiner Überraschung kam meine Mutter in den Raum. Mit einem prüfenden Blick auf mein Frühstück - wahrscheinlich, um zu gucken, ob es für ihre Verhältnisse gesund genug war - sagte sie: „Ein wichtiger Geschäftspartner hat uns heute Abend zum Essen eingeladen. Sei um sechs Uhr passend gekleidet im Foyer." Mit einem weiteren Blick auf meinen Apfel hing sie noch dran: „Und denk daran deine Kalorieneinnahme so anzupassen, dass du heute Abend eine passable Portion zu dir nehmen kannst."

Mein Blut fing jetzt schon an zu kochen. Wirklich? Ich aß einen Apfel, keine Tafel Schokolade. Ich knurrte: „Ja, Mutter.", während ich mir meine Nase mit meinem Mittelfinger kratzte, doch sie achtete schon nicht mehr auf mich, sondern setzte mit einem Blick auf ihr Handy hinzu: „Ich werde Gaby bitten, dir passende Kleidung herauszugeben", sie räusperte sich: "Dieses Essen ist sehr wichtig, genauso wie unser Eindruck auf Mister Bullock." Damit verließ sie den Raum.

Verfremdet schaute ich ihr hinterher.

Der erste Teil unserer Unterhaltung war keine Überraschung für mich. Sticheleien über meine Ernährung und Kleidung waren nichts Neues für sie, jedoch hatte mich ihr letzter Satz irritiert.

Dieses Essen ist sehr wichtig, genauso wie unser Eindruck auf Mister Bullock.

Einen guten Eindruck bei möglichen Geschäftspartnern, sowie Klienten zu hinterlassen, war gegeben. Das war mir und meiner Mutter sehr klar.

Was genau war es, dass ihr also an diesem Essen so wichtig war?

Wer war Mister Bullock und was war so besonders an ihm?

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