Kapitel 1 - Aufstieg

6 1 0
                                    

Da schwebte sie nun in unserer Mitte über dem Lagerfeuer. Aus meinen Augen lösten sich leise Tränen der Freude. Die Menschen waren ruhig geworden, gaben keinen Ton von sich, machten keine Geräusche. Selbst ihr Atmen war nicht zu vernehmen, als hätten sie alle damit aufgehört. Mir verschlug es die Sprache. Niemals hatte ich damit gerechnet, dass Jor so früh hier auftauchen würde. Anscheinend konnte meine Schwester es nicht abwarten, wieder mit mir vereint zu sein. MehrereTausend Jahre hatten wir uns nicht gesehen, doch ich erkannte Jormungandr sofort wieder. Die Macht, die sie ausstrahlte war einzigartig.»Hast du mir denn gar nichts zu sagen?«, drang ihre liebliche Stimme in mein Ohr, als würde sie direkt neben mir stehen. Keiner meiner Gefährten wagte es, auch nur ein einziges Wort zu sagen.Nach einigen Augenblicken hatte ich meine Stimme wiedergefunden und flüsterte ihr ganz leise zu: »Ich habe dich so sehr vermisst. Bitte bleib bei mir und geh nie wieder fort.«Rani schaute verwundert zu mir hoch, hob ihre Linke und wischte mir die Tränen vom Gesicht. Die Frau im blauen Kleid beobachtete das Ganze genauestens. Mein Blick machte ihr deutlich, dass ein Platz an meiner Seite für sie immer frei sei. Doch es gab ein Wesen in unserer Runde, das seinen Blick nicht von meiner Schwester abwenden konnte. Eigentlich hätte es mich stören und mich überaus wütend machen müssen, doch bei diesem Wesen ließ ich das Interesse durchgehen. Wäre es hart auf hart gekommen, hätte ich sowieso keinen Stich gegen diese Person gesehen.»Also gut, mein Bruder«, antwortete Jor. »Ich werde wie in Kommentiert [BR1]: Fenrirs Sicht9unseren Kindertagen an deiner Seite weilen. Auch möchte ich meinen Neffen kennenlernen, den ich leider noch nie gesehen, von dem ich aber gehört habe.«»Ja, natürlich. Komm, setz dich zu mir!« Noch immer war ich überrascht und ein jeder musste es mir deutlich ansehen. In meinem Geist suchte ich noch nach passenden Worten, als ich bereits zu sprechen begann.Jor sah mich an und lachte laut los. Ach, wie sehr habe ich ihr Lachen vermisst! Schließlich lachte auch ich, verhielten wir uns doch immer noch wie Kinder. Mit eleganten Schritten flog meine Schwester durch die Luft und stieg eine unsichtbare Treppe hinunter auf den Boden. Jede ihrer Bewegungen strahlte Kraft und Eleganz aus. Nachdem Jormungandr sich neben mich auf den feuchten Boden gesetzt hatte, atmete sie tief durch. Das hatte sie schon als kleines Mädchen getan.»Ich wollte euch nicht unterbrechen. Fenrir, du scheinst diesen machtvollen schwarzen Ritter zu kennen. Ich kann kaum glauben, dass du eine kleine, aber schlagkräftige Truppe um dich versammelt hast. Ausgerechnet du als Einzelgänger!«, sagte sie mir direkt ins Gesicht. Da ich mich in meiner Tiergestalt befand, setzte ich weder eine verwirrte noch einepeinlich berührte Miene auf, doch meine Schwester durchschaute mich, das wurde mir bei ihrem Anblick klar. Mir entfuhr ein tiefer Seufzer. Jor war aber noch nicht fertig, das sah ich an ihrer Aura.»Also, dann werde ich mich einfach einmal vorstellen. Ihr alle habt es bereits gehört: Ich bin die Schwester dieses grauen Wolfes hier. Mein Name ist Jormungandr – für meine Familie auch einfach Jor. Bekannt bin ich in Midgard als die Weltenschlange oder eher als die Midgardschlange.« Sie sah von einem zum anderen, bis ihr Blick an Rani haften blieb. Plötzlich begannen die Augen der Midgardschlange in einem 10tiefen Blau zu flimmern. Das überraschte mich, denn als wir getrennt worden waren, hatte Jormungandr den magischen Blick noch nicht beherrscht.Meine Freundin verspürte keine Angst, sicher konnte sie sich den Grund des Flimmerns denken. Die anderen anwesenden Menschen hingegen fühlten sich augenblicklich unwohl. Mein alter Freund Bronos verhielt sich still. Er schien meine Schwester genauestens zu beobachten. Ich nahm an, dass er bisher noch nicht allzu viele höhere Wesen kennengelernt hatte.Nach einigen Augenblicken hörten die Augen der Midgardschlange auf zu flimmern. Die blauen Flammen verschwanden aus ihren wunderschönen Augen.»Mein Bruder. Ich gratuliere dir zu deiner neuen Partnerin. Anscheinend hast du sie zu einem Teil unserer Familie gemacht.« Jor schien Rani als meine Freundin anzuerkennen. Dies erleichterte mich ungemein. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was gewesen wäre, wenn Jor meine Partnerin nicht gemocht hätte.Mein Blick wanderte hinunter zu Rani, die kein Wort herausbrachte. »Dann erzähle ich einfach weiter«, sagte ich liebevoll zu Jormungandr. »Ich denke, dass du gerne etwas über meine vergangene Zeit hier in Midgard hören möchtest.«»Nun, Fenrir, fahre ruhig fort«, erwiderte Jor, »doch der goldene Wolf hier scheint regelrecht verzaubert von mir zu sein. Auch der schwarze Krieger wirkt interessiert.« Sie ließ ein amüsiertes Lachen ertönen.Skalli fand als Erster die Sprache wieder. »Vater, ist das wirklich meine zweite Tante? Du hast nie etwas von ihr erzählt!«»Was?« Jormungandr sah mich fragend an. »Wirklich nicht? Ach, Fenrir ... Was hast du dir denn nur dabei gedacht? Aber verstehen kann ich es irgendwie schon ... Dennoch ... wer ist der Goldene überhaupt?«11Eigentlich müsste Jor das ganz genau wissen, aber na ja.»Ich freue mich, dich zu treffen, Tante Jor. Ich bin Skalli und gelte als der Sonnenverschlinger.«»Ich freue mich darauf, endlich meinen Neffen kennenzulernen, doch diesen ganzen Trubel erledigen wir am besten, wenn wir wieder unterwegs sind. Erst einmal möchte ich gerne wissen, was mein Bruder noch so zu erzählen hat.« Jor wandte sich an Skalli und schmunzelte. »Ich denke, dass Fenrir, wenn er sich seit damals nicht geändert hat, nie wirklich viel aus seiner Vergangenheit erzählt hat.«Lachend schüttelte ich den massigen Wolfskopf. Die Menschen hatten geduldig darauf gewartet, dass ich meine Geschichte fortsetzte, und das sollte nun auch geschehen, doch Rankar hatte noch etwas zu besprechen, so schien es mir. Also ließ ich den Gesegneten gewähren. In seinen Armen lag die Elfe und hatte die Augen geschlossen. Anscheinend konzentrierte sich Amari einzig und allein auf den Herzschlag ihres Freundes. Nein, sie schien vor Erschöpfung eingeschlafen zu sein und von der Ankunft meiner Schwester nichts mitbekommen zu haben. Rankar würde keinen Zoll von der Seite der Elfe weichen, dessen war ich mir sicher.»Fenrir. Kannst du Amari ein wenig Macht einflößen, sodass sie vor morgen früh nicht aus ihrem Schlaf erwacht? Ich will, dass meine Kleine sich vollständig erholt.« Er bat mich um einen gewaltigen Gefallen und ich zögerte zunächst. Rani strafte mich mit einem wütenden Blick, also nutzte ich einen speziellen Zauber, den ich auch schon ihr gegenüber angewendet hatte.Anschließend wandte sich Rankar an den alten Fürsten. Als Bronos vorhin erwähnt hatte, dass Nirgenfeld sein Ziel sei, war der alte Kriegsherr hellhörig geworden. »Nach Nirgenfeld? Da wollen wir auch hin!«, begann er. »Dann kannst du doch mit uns reisen, ähm ... Ich weiß deinen Namen noch gar nicht.«12»Entschuldigt bitte, wo sind denn nur meine Manieren geblieben? Mein Name ist Bronos. Einfach nur Bronos. Fenrirs Freunde sind auch meine Freunde, ungeachtet meines Status«, sagte der schwarze Ritter lächelnd. Mittlerweile waren seine Haare dreckig-blond und für meinen Geschmack etwas gewöhnungsbedürftig.Bronos bemerkte meinen fragenden Blick. »Das passiert im Alter nun mal. Ich denke, dass mein Haupt in weiteren zweitausend Jahren weiß sein wird«, sagte er mit einem Grinsen im Gesicht. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Jor überrascht eine Augenbraue hob. Sie schien gar nicht bemerkt zu haben, welch starke Macht meinem alten Freund innewohnte. Alle Menschen, die um uns herum versammelt waren, staunten. Wirklich alle staunten, sogar Rani und ihrem Vater Rankar klappte die Kinnlade herunter.»Fenrir, wie lange ist es denn jetzt schon her seit unserer letzten Reise?« Der schwarze Krieger schien nachzudenken. Er legte die Stirn in Falten, was ich gar nicht von ihm kannte.»Ich denke, das müssen knapp ... tausenddreihundert Jahre sein!«, rief ich erstaunt. »Wie die Zeit vergeht. Ich erinnere mich noch daran, als wäre es gestern gewesen.« Hier in Midgard schritt die Zeit nach meinem Empfinden wirklich schnell voran. War es tatsächlich schon so lange her, dass ich mit ihm auf Reisen gewesen war? Ich konnte es kaum glauben.»Jetzt noch mal langsam, Bronos, damit wir es auch verstehen«, bat Rani. »Wie kann das sein, dass du so alt bist?«Zustimmende Rufe erklangen aus den Reihen der Menschen. Inzwischen hatte sich eine große Anzahl Soldaten um uns versammelt. Ein jeder wollte mithören.Allen voran dem Kommandanten der Menschen, Urolog, standen die vielen Fragen deutlich ins Gesicht geschrieben.»Nun, eigentlich will ich erst einmal wissen, wer du bist,13Fenrir?«, sagte er und maß mich mit einem fragenden Blick.Stimmt ja! Ich habe es niemals auch nur erwähnt, dass ich zu den alten Göttern gehöre.»Nun, ich bin der Gott aller Wölfe und erster Sohn des Loki«, antwortete ich. Meine gesamten Titel wollte ich nicht herunterrattern. Alle Menschen, die es noch nicht gewussthatten, starrten mich mit offenem Mund an. Rankar und Rani mussten die Männer erst einmal aufklären, wer Skalli und ich wirklich waren.... 

Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: May 02 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

Wolfsmacht Leseproben (Wolfskult Buch 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt