Hallo Fremder,
Ich weiß nicht wirklich wo ich anfangen soll, aber mir wurde gesagt ich solle mit Jemandem reden. Da gibt es jedoch ein Problem: Ich vertraue Menschen nicht. Ich habe keine Freunde oder Familie die es genug interessieren würde oder denen genug daran liegen würde mir zu zuhören. Also habe ich nachgedacht und diesen Brief zu schreiben ist wohl die beste Möglichkeit. Ich denke, oder hoffe, dass die Person die diesen Brief liest so verrückt ist wie ich es bin. Nicht das Verrücktsein etwas schlimmes ist, aber nur mal so unter uns - wer würde einen solchen Brief öffnen?
Ich weiß noch immer nicht wo ich anfangen soll. Ich weiß nicht wie viel ich erzählen kann, oder was ich für mich behalten sollte. Ich weiß nicht ob es eine Frau sein wird, die diesen Brief lesen wird, oder ein Mann oder ein Kind oder eine alte Dame oder ein alter Herr. Ich weiß nicht ob ich diese Person kenne oder nicht. Ich weiß nicht ob die Person deutsch spricht. Ich hoffe nur irgendjemand liest ihn und wird mich nicht verurteilen. Denn ja, ich habe Angst verurteilt zu werden. Jeder Schritt den ein Mensch macht wird dokumentiert. Vielleicht nicht auf Papier oder Filmen, aber in Gehirnen. Nie sind wir komplett alleine. Immer sind die Stimmen in unseren Köpfen da die uns sagen was richtig und falsch ist. Aber was ist richtig und falsch? Ist es falsch sich schlecht zu fühlen oder zu weinen? Ist es falsch schwach zu sein und seine Gefühle zu zeigen?
In der Welt in der wir heute leben, in dem jeder sich nur noch für sich selbst interessiert, die mit oberflächlichen Leuten vollgestopft ist, in der wir programmiert sind wie der Computer oder das Handy über dem wir tagein tagaus hängen, kann man sich keine Fehlprogrammierung leisten. Jeder der anders ist wird ausgeschlossen und weggeworfen wie ein kaputtes Ladekabel - außer man erzählt es niemandem. Man erzählt niemandem das man anders ist. Man erzählt niemandem was man fühlt. Man erzählt niemandem wer man wirklich ist. Man strengt sich an zu funktionieren. Man strengt sich an so zu sein wie es von einem verlangt wird. Man strengt sich an so zu sein wie jeder andere. An einem wird gezogen und gezerrt wie an einem Gummiband - doch wie es mit diesen Gummibändern so ist, wird es eines Tages reißen. Eines Tages geht man kaputt und dann wird man andere verletzen. Und wenn man dann kaputt ist, ist es sowieso vorbei. Dann wird man weggeschmissen und vergessen, denn wie wir alle wissen: Niemand wird gerne verletzt.
Auch wenn ich möglicherweise etwas philosophisch wirke und man vielleicht meinen würde, ich könnte mir auf alles eine Antwort zusammen reimen, ist all das was ich eben geschrieben habe nur Spekulation. Wer weiß schon, wie es wirklich ist? Es gibt so viel Fragen, auf die man nie eine Antwort finden wird - einfach weil es keine gibt. Doch da wir Menschen sind, versuchen wir es trotzdem. Alles muss logisch sein. Alles muss zusammen passen. Denn unsere Gedanken besteht nur noch aus kleinen Rechtecken und wenn etwas keinen Sinn macht streicht man es einfach. Denn wenn es nicht zu unseren Rechtecken passt kann es unmöglich existieren. Oder?
Nichts was nicht in unsere Vorstellung von richtig passt gibt es wirklich. Es ist falsch. Aber gibt es überhaupt richtig und falsch? Wird uns nicht seit Kindesalter gesagt: Deine Meinung zählt. Egal ob Leute sagen sie ist falsch, irgendwo wird ein Fünkchen Wahrheit drinnen stecken.
Oder: Deine Gefühle sind nicht falsch. Du darfst lieben wen du willst.
Doch wieso versteckt sich dann jeder? Wieso zeigt niemand seine Gefühle oder sagt seine Meinung?
Die Antwort scheint so simpel. Weil wir Angst haben verurteilt zu werden. Verurteilt für unsere Religion, unsere Herkunft, unsere Sexualität. Und obwohl diese Antwort für viele zutreffen wird, gibt es doch Leute für die eine andere Antwort gilt: Sie denken sich gegen das System zu wehren macht keinen Sinn. Denn was kann ein einzelner Mensch schon ausrichten?
Und dann gibt es noch die dritte Antwort: Weil es nicht in unsere Rechtecke passt. Es gehört nicht mehr zur menschlichen Natur sich gegen die Entscheidungen anderer zu stellen.
Denn wenn man dies tut steht man wieder an der Stelle des Gummibands. An einem wird gezerrt und gezogen. Man soll so denken wie die Anderen. Man soll so sein wie die Anderen. Man muss so sein wie die Anderen. Und dann, wenn man reißt, ist alles vorbei.
- T
DU LIEST GERADE
Dear Stranger
RomanceEin sorgenfreies Mädchen fand einen misteriösen Brief welcher die Tür in eine neue, für sie unbekannte Welt öffnete. "Hallo Fremder, ..."