Farblos und still schlummern die Riffe. Ein Schatten der Vergangenheit. Die Bleiche zeigt, wie viele Korallen ausgestorben sind. Schuld sei der Klimawandel behaupten die Menschen. Narren, die vergaßen, welche Gefahren in diesem Gewässer lauern. Wohin das Auge blickt, schwimmt in den Fluten Unmengen an Müll. Plastiktüten, die an den Unterwasserpflanzen hängen bleiben und in der Strömung tanzen wie Fahnen im Wind. Schraubdeckel, die gern von den kleinen Meeresbewohnern verschluckt werden. Die Nacht endet und die ersten Boote wagen sich hinauf aufs Meer. Sie werden nur deshalb verschont, weil die Säuberung des Gewässers beginnt. Nicht der Umwelt zuliebe, sondern aus Eigennutz. Verdreckte Strände und Buchten halten Touristen fern.
Hoch oben auf der Felsenspitze thront die Burg Ruffo. An der Meeresstraße von Messina. Über einer Höhle, die Skylla gern gewonnen hat. Das Wasser ist kristallklar und angenehm temperiert. Die Artenvielfalt der dort zu findenden Meeresbewohner locken unzählige Taucher an. Einige davon sind mutig genug, ihre Behausung zu erkunden. Manche kehren lebend zurück. Andere aber nicht. Die Gefahr ist verdrängt und dient mehr als Märchenstunde. Die Menschen wandern sorglos bis zur Spitze der Landzunge. In überdachten Wegen wenige Meter über der Höhle. Dem Lärmpegel verschuldet befindet sich Skylla über Tag auf Erkundungstouren. Schiffwracks erinnern ihr Kriegerherz an die alten Zeiten. Damals gab es mutige Seefahrer und Piraten, die sich in den Kampf mit ihr stürzten. Sehnsüchtig wartet Skylla auf das Erwachen ihrer treuen Freundin Charybdis. Eine Frau, die wie sie ebenfalls von den Göttern verflucht wurde. Ein starkes Wesen, das Skylla in Zeiten des Kummers beistand. Macht erfordert einen Preis. Charybdis schlummert bereits wenige Jahrhunderte. Ihr Erwachen wird die Menschheit wachrütteln und erneut daran erinnern, dass mit ihnen nicht zu spaßen ist. Skylla fiebert sehnsüchtig auf diesen Tag hin. Auf das Ende ihrer Einsamkeit. Auf das große Festmahl. Auf den Spaß, den die beiden Monster gemeinsam haben werden.
Der metallische Blaustich und der spitze Oberkiefer verraten den Schwertfisch. Wo er jagt sind Schwarmfische nicht weit entfernt. Es heißt, Schwertfische stehen ganz oben auf der Liste der stärksten und schnellsten Räuber. Herausfordernd entblößt Skylla ihr spitzes Gebiss und auch ihre Begleiter bellen aufgeregt, endlich einen würdigen Gegner gefunden zu haben. Sechs arme Seelen, die ein Band mit ihr schmieden. Lang wie Aale. Köpfe wie Wölfe. Eigenschaften wie Tarnfische. Nur durch hastige Bewegungen werden die Gefährten von dem Umfeld wahrgenommen. Wie Geister verhalten sie sich unauffällig, dass Skylla selbst gern vergisst, dass sie nicht allein ist. Kräftig sind die Kiefer wie bei einem Riffhai. Ihre Form mag sich verändert haben, aber ihr Wesen blieb erhalten. Skylla hatte schon als Mensch eine starke Bindung zu den königlichen Jagdhunden. Die Tiere wurden damals vom Personal gefürchtet und nur wenige verstanden, dass sie weitaus mehr als Werkzeuge sind. In ihrer Freizeit suchte Skylla die Nähe zu den Hunden. Zum Leidtragen der Vierbeiner, denn somit traf der Fluch nicht allein die Königstochter. Skylla ist ein Opfer der Eifersucht. Als Menschenfrau wurde die Schönheit ihr zum Verhängnis. Ein Halbgott verliebte sich unsterblich in sie, aber sie empfindet nur Ekel für oberflächige Idioten. Und das war er. Ohne Zweifel. Ein Wichtigtuer. Ein Egoist. Seinetwegen verlor sie alles. Ihre Menschlichkeit. Ihre Heimat. Ihre Familie. Ihre Freunde.
Es sind die hastigen Bewegungen, die Skylla aus den Gedanken reißen. Aufgeregt tänzelt der Schwertfisch. Freudig über die Herausforderung. Zuversichtlich, den Wettkampf zu gewinnen. Ein Griff und Skylla schiebt eine riesige Plastiktüte wie ein Vorhang zur Seite. Eine Bewegung, die als Startsignal dienen soll. Etwas, dass der stolze Raubfisch verstanden hat und davon düst. Skyllas Augen hingegen weiten sich beim Anblick der riesigen Karettschildkröte mit rötlichen Flecken. Ein wunderschönes Exemplar, das sie fast für ausgestorben hielt. Ein Fund, der ihr Herz höher schlagen lässt. Vor Dankbarkeit. Zu trostlos ist die Unterwasserwelt geworden. Das massenhafte Aussterben der Meeresbewohner lässt Skylla nicht kalt. Lächelnd schwimmt sie neben das Tier her. Seitlich, sodass das Reptil sie komplett sehen kann und die Möglichkeit hat, aufzutauchen, um Sauerstoff zu tanken. Die Schildkröte ist ausgewachsen und wirkt gesund. Aus Reflex kommt Skylla dem Tier zuvor. Denn dieses hielt all den Müll für Nahrung und war dabei, nach einer weiteren Tüte auszuschnappen. Die Schildkröte würde dadurch elendig verkommen. Ein Gedanke, der den bitteren Geschmack von Galle im Mundraum verbreitet.
DieSchandtaten der Menschen lassen sie nicht kalt. Damals speiste Skylla allesLeben, was ihr über den Weg lief. Aber die Zeit heilte ihre Wunden und milderteden Kummer. Aus einem hungrigen Monster wurde ein Beschützer der See. DieMeeresbewohner fürchten sie nicht länger, sondern erfreuen sich über ihreAnwesenheit. Gemeinsam erkunden sie mit ihrer Wächterin den Ozean und spielensogar mit den Hundeseelen, die für immer zu ihr gehören. Wissend und vollerDankbarkeit kneift die Schildkröte die Augen halb zu.
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Dunkler Wächter des Meeres
Short StoryDer Lebensraum des Tyrrhenischen Meers beginnt abzusterben. Müll, Überfischung und Ruhestörung machen den Meeresbewohnern zu schaffen. Am Fischerdorf Scilla hausen zwei mythische Kreaturen. Eine davon befindet sich in einem tiefen Schlaf, die andere...