Andere Prioritäten

9 8 2
                                    


Der Hilferuf klingt nah. Schneller als ein Schwertfisch düst Skylla voran. Dabei weicht sie einem Riffhai im letzten Augenblick aus. Ein kurzer Schulterblick zeigt, dass es dem Tier an nichts fehlt. Ihre Krallen haben ihn nicht verletzt. Nur sein Stresslevel ist gestiegen. Verständlich. Mit diesem Überfall hat er sicherlich nicht gerechnet. Wütend schüttelt sich das Tier und die Augen funkeln bedrohlich, woraufhin sie entschuldigend die Klauen aufeinanderschlägt und sich kurz nach vorne beugt. Alles nur, um im nächsten Moment zu verduften. Ungeachtet, ob der Hai ihre Entschuldigung annimmt.

Das Zittern verstärkt sich, desto näher sie an die Geräuschquelle gelangt. Bereits aus der Ferne lässt sich das Unheil ausmachen. Ein riesiger Fleck Dunkelheit, der das Sonnenlicht verschlingt und die Meeresbewohner das Fürchten lehrt. Gierig ist der Schlund geöffnet. Die gefangene Beute ist beachtlich und das Netz gewaltig groß. Inmitten gibt es eine Seele, die mit dem Schicksal am wenigsten umgehen kann. Ein Lebewesen, das laut weint und sich den Gefühlen hingibt. Es klingt jung und verlassen. Vielleicht getrennt von dem Elternteil. Bewusst verharrt Skylla, um einmal sich mental zu wappnen. In ihr mag eine Kriegerin stecken, aber mit den Jahren hat sie gelernt, ihre Gefühle zu beherrschen und den Kopf einzuschalten. Einmal hätte ihr Temperament ihnen das Leben gekostet. Dieser Fehler darf sich nicht wiederholen. Allein der Gedanke an den Feind, den sie unterschätzte, beschleunigt den Puls. Die Narbe beginnt zu jucken. Von allen Seefahrern gab es nur einen, der sie lebensbedrohlich verletzte. Zu ihrem Bedauern schreckte ihn ihre Begegnung ab. Er verlor an ihr viele Leute aus seiner Mannschaft, aber kehrte nie wieder zurück.

Feigling!

Sein Namen zu kennen wäre ein Anfang. Aber in all dem Trubel kam ihr dieser nicht zu Gehör.

Behutsam nähert sich die Verfluchte den Gefangenen. Darauf bedacht, keine zu hastigen Bewegungen zu machen. Die Tiere stehen genug unter Stress. Ganz langsam streichen die langen Nägel über die Netze. Ihre Klauen sind so scharf wie geschliffene Schwerter. Sie schneiden ohne Widerstand wie durch Butter. Kaum erschafft sie einen Durchgang, begeben sich die ersten Fische in die Freiheit. Skyllas Blick trifft sich mit dem einer jungen Schildkröte. Sie hat sich so stark zwischen den Seilen verheddert, dass diese ohne Fremdeinwirkung nicht allein entkommen kann. Sie verhält sich verdächtig ruhig. Von ihr stammen die Klagelaute nicht. Aber in all dem Getümmel lässt sich die Quelle unmöglich ausmachen. Daher widmet sich Skylla der kleinen Schildkröte. Feinfingergefühl zählt nicht zu ihren Stärken. Zum Glück bekommt sie tatkräftige Unterstützungen von ihren Hunden. Ihre Seelengefährten sind intelligenter, als so manche Personen annehmen. Ruckzuck ist das Netz durchtrennt und die Bewegungsfreiheit des gefangenen Tieres nicht mehr eingeschränkt. Die Schildkröte regt sich jedoch nicht. Die Seile lagen zu eng um den kleinen Körper, dass Schnittstellen an wenigen Flecken zu finden sind. Da der befreite Kerl unter Schock steht, legt Skylla ihn behutsam an ihre Brust. Die Verlockung ist zu groß, nach dem Netz zugreifen und den Fischerkahn in die Tiefen des Meeres zu reißen. Aber zuerst besteht großer Handlungsbedarf. Die Gefahr ist noch nicht gebannt, dass die Schildkröte ihr wegsterben kann. Einige Stunden können sie im Wasser bedenkenlos überleben und doch muss zwischendurch Luft geschnappt werden. Daher geht es hinauf zur Wasseroberfläche. Auf die Gefahr hin, entdeckt zu werden. Bewusst nähert sich Skylla dem Ort des Grauen. Sie inspiziert das Schiff der Schlächter gründlich. Der Eisendampfer durchlebte einige Reparaturen und Instandsetzungen. Das Schiff ist groß und sicherlich schwer. Eine Herausforderung, die Vorfreude aufkeimen lässt. An dem Biest wird sie ihre Kraft unter Beweis stellen. Ganz nah am Schlachthaus taucht sie auf. Sicher im Schatten. Dort, wo die Menschen sie nur schlecht erkennen können. Fern von der Schiffsschraube, denn selbst wenn der Kahn still steht, zollt sie vor dem Motor Respekt.

Skylla erliegt einer Geduldsprobe. Die Stimmen der Menschen lassen sie nicht kalt. Sie schmerzen in den Ohren. Auf dem Deck wird sich sorglos unterhalten und gelacht. Während die Beute in ihren Netzen dem Kampf um Leben und Tod obliegt, ist die Stimmung auf dem barbarischen Schiff freudig und voller Erwartungen auf den Fang. Diese Leute würdigen den kleinen Lebewesen nicht mal mehr einen Blick und verrichten ihr Handwerk ohne Gewissen. Als wolle Skylla dieses Schiff markieren, zieht sich eine Klaue über die Schiffswand und zerkratzt den Lack. Der Geist erwacht im flammenden Meer aus Zorn, bevor sie aufliegt. Aus Sorge, die Menschen erkundigen sich nach der Geräuschquelle, taucht sie hinab und maßregelt sich im Stillen über den Gefühlsausbruch. Aber kaum dringt das Lied der leidenden Seele erneut an ihr Ohr, reißt der Geduldsfaden. Zu ihrem Glück erwacht die Schildkröte aus ihrer Schockstarre und regt sich langsam in ihren Armen. Skyllas Griff gibt nach und mit ein klein wenig Halt schwimmt das Tier davon. Die Retterin will sich gerade abwenden und den nächsten Hilfsbedürftigen aufsuchen, da bemerkt sie, wie sich das kleine Tier noch einmal zu ihr umdreht. Der flüchtige Augenkontakt grenzt Skyllas Wut ein und verschafft ihr klare Gedanken.

Beschämt schlägt Skylla die Augen nieder. Noch muss sie hart an sich arbeiten. Mit einem tiefen Seufzen geht es hinab zu dem zerstörten Fangnetz. In diesem befinden sich nur eine Handvoll Fische und ein fremdes Geschöpf, das ihre Aufmerksamkeit bedarf. In ihrem gesamten Leben hat sie solch ein Seepferd noch nie zu sehen bekommen. Ein Kind, das bereits eine beachtliche Größe aufweist und sich von seinen Artgenossen gewaltig unterscheidet. Es erinnert vom Oberkörper an ein Wildpferd, die nur auf dem Festland zu finden sind. Es hat Vorderhufen und den kleinen Ansatz einer Mähne wie bei einem Fohlen. Die Flosse ähnelt einem kräftigen Hai. Die vor Panik geweiteten Augen erinnern an flüssiges Gold. Ein leuchtender Spiegel voller Furcht und Verzweiflung. Zwischen den rabenschwarzen Schuppen schimmern kleine Goldpartikel, wie bei dem Kleid, das sich Skylla ausgesucht hat. In all den Jahren kam es immer wieder einmal vor, dass die Meeresströmungen unbekannte Tiere an die Küste gebracht haben. Geflohen, um zu überleben. Auf der Suche nach neuem Lebensraum. Das Jungtier zittert am ganzen Leib und steckt mit dem Geist noch in der Schlinge. Die Freiheit wurde nicht realisiert. Mit solchen Momenten hat Skylla bereits Erfahrung. Traumatisierte Seelen, die Liebe und Pflege brauchen, um das Erlebte zu verdauen. Wer könne die Situation nicht besser verstehen als sie? Zu wenig weiß Skylla über den Leidensweg des Tieres, aber genug, um zu handeln.

Vertrauen gewinnen ist der Schlüssel zur Lösung. Keine hektischen Bewegungen und langsam die Distanz reduzieren. Skylla ist bewusst, wie angsteinflößend ihre Gestalt auf andere wirkt. Ihr neuer Körper dient dem Kampf. Alles an ihr schreit nach Gefahr. Daher ist Geduld gefragt. Mit Bedacht überwindet sie all den Abstand. Als ihr Gegenüber sie registriert, reißt das Tier sämtliche Mauern in ihrem Kopf ein. Eine Flut an Bildern überwältigt Skylla. All die Geschehnisse der letzten Tage erscheinen vor ihrem geistigen Auge. Beginnend mit der mütterlichen Liebe und Fürsorge. Das sorglose Spielen und Erkunden eines Moorgebietes. Das Auflauern der Beute. Mutter und Kind haben sich überschätzt. Die Schar Menschen hatten Glück im Unglück. Der tödliche Schuss war mehr ein Unfall. Ein Zweibeiner zog seine Waffe. Seine Nerven lagen blank. Er war ein schlechter Schütze und doch traf er mit geschlossenen Augen. Die Götter waren ihm gnädig. Aus der Beute wurden Jäger. Sie vertrieben das Jungtier aus dem Moor. Im Schutze eines Flusses ging es hinaus aufs Meer. Eine lange Reise ohne Rast. Immer auf der Flucht. Begleitet von den Gefährten namens Angst und Trauer. Der kürzliche Verlust der Mutter ist kaum verarbeitet. Nun, da der Geist erwacht und mit all dem konfrontiert wird, folgt ein Zusammenbruch. Skylla reagiert blitzschnell und gibt dem sinkenden Körper Halt. Das Tier ist nicht länger bei Bewusstsein und hat die Augen geschlossen. Die Besatzung des Kahns über ihren Köpfen kann von Glück sprechen, dass die Versorgung des unbekannten Geschöpfs höchste Priorität hat. Denn Skylla mag sich um das Tier kümmern und ein Blick in die Augen ihrer Gefährten zeigt, dass jede einzelne Hundeseele hinter dieser Entscheidung steht. Daher beschließt Skylla, den Ort des Grauen zu meiden und eine Ruhestätte aufsuchen. Das Tyrrhenische Meer heißt den Neuankömmling willkommen und somit steht die arme Seele in ihrem Schutz.

Dunkler Wächter des MeeresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt