Prolog

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Silver

Sommercamp Santa Monica, Kalifornien

Tillie macht einen weiteren Pinselstrich über die weisse Leinwand, welche auf ihrer Staffelei steht. Sie ist ein Naturtalent. Ich bin sprachlos. «Hervorragend Tillie. Mach weiter so.» Als ich hinter ihr vorbeilaufe, lege ich ihr meine Hand auf die Schulter und drücke sanft zu. «Danke Miss Michaelson.» Sie ist so süss. «Nenn mich doch Silver. Miss Michaelson klingt so alt.» Und sie fängt an zu kichern. Genau wie meine anderen Schüler geht sie gerade mal zur Grundschule. Das ist das erste Mal, dass ich bei so einem Sommercamp für Kids teilnehme. Meine Mutter, wie auch meine Klassenlehrerin meinten, dass es doch eine tolle Idee wäre und es sich sicher in den Bewerbungsunterlangen fürs College auch nicht schlecht machen würde. College…eigentlich hatte ich nie gross Lust zu studieren, aber in meinem Kopf hat sich der Gedanke, einmal anderen Leuten die Kunst näher zu bringen, verfestigt. Tja, aber um meinem Traum als Kunstlehrerin zu erfüllen, komme ich um ein Studium leider

nicht drumherum. Von einem Ferienjob wie diesem, kann ich in der Zukunft leider nicht leben.
Aber darüber mache mir Gedanken, wenn ich wieder zu Hause bin. Im guten alten Sterling im schönen Staate Utah. Hört sich an, wie eine verschlafene Kleinstadt? Ist sie auch, aber ich liebe es dort zu leben. Ich bin dort in den Kindergarten und in die Grundschule gegangen. Und jetzt besuche ich auch die High-School in Sterling. Meine Mitschüler würden mich wohl eher als Eigenbrötlerin bezeichnen, da ich doch lieber für mich allein als unter grossen Menschenmengen bin. Diese Tatsache begreift meine Mutter bis heute nicht. Sie meint immer, ich sei doch so eine liebenswerte und anständige Person. Man müsse mich doch einfach lieben. Klar Mom, du hast mich ja auch auf die Welt gebracht, du musst sowas sagen. Aber egal.
Vor drei Jahren kam mein Vater bei einem Autounfall ums Leben und seitdem leben meine Mutter und ich allein in einem grossen Bauernhaus ein bisschen ausserhalb der Stadt. Stadt? Naja, wohl eher Dorfkern oder so. Bei knapp 400 Einwohnern können wir wohl schlecht von einer Stadt reden. Da meine Mutter seit ein paar Monaten gesundheitlich ein bisschen angeschlagen ist und nicht mehr alle Tiere auf dem Hof selbst betreuen kann, haben wir uns nur noch auf die Milchkühe fokussiert und eine Hof-Hilfe eingestellt.
«Silver.», ruft Andy und ich gehe zu ihm rüber. Heute haben zehn Kinder an meinem Kurs teilgenommen und es macht mir einen Riesenspaß ihnen dabei zuzusehen, wie sie ihre Fantasie aufs Papier bringen. Ihnen sind fast keine Grenzen gesetzt.

Auf dem Sammelplatz vor unseren Bungalows haben die Kinder ihre Staffeleien aufgestellt und malen heute mal mit Acryl. Andy zeigt auf sein Bild. Damit ich es richtig erkenne, muss ich schon näher rangehen. «Gefällt es dir Silver? Habe ich nur für dich gemacht.» Andy strahlt bis über beide Ohren und läuft rot an. Gott, er ist so süss. Aber was er genau gezeichnet hat, kann ich beim besten Willen nicht sagen. Schwarze Striche laufen vom oberen Rand nach unten. In der Mitte befindet sich ein helloranger Punkt und darin wurden zwei silberne Kleckse aufgetragen.
«Das sieht sehr interessant aus Andy. Was ist die Geschichte dazu?» Diese Frage stelle ich immer, wenn ich wirklich keinen blassen Schimmer habe, was das Bild eigentlich darstellen soll. Ha! Ich bin doch eine großartige Lehrerin, nicht wahr? «Danke Silver. Ich habe dich gezeichnet. Du hast so wunder wunderschöne Augen.» Er blickt zu mir auf und klimpert dann tatsächlich mit den Wimpern. Grosser Gott! Er nimmt die Leinwand vom Holz und drückt sie mir gegen die Brust. «Ich schenk es dir.», meint er dann ganz selbstzufrieden und grinst weiter wie ein Honigkuchenpferd. Ich verspreche ihm hoch und heilig, dass ich es zu Hause in meinem Zimmer aufhängen werde. Er himmelt mich leider durch diese Aussage noch mehr an, als hinter uns plötzlich eine Glocke erklingt.
DING! DING! DING!
Das ist das Zeichen für alle, dass der Kurs für heute vorbei ist und bereits der nächste auf sie wartet. Meine Schüler sammeln ihre Farben und Leinwände zusammen und machen sich davon.

Da dies für heute mein letzter Kurs war, sammle ich die Staffeleien ein, damit ich sie nachher in den Abstellraum neben der Hütte vom Empfang stellen kann.
«Dir ist schon klar, dass er unsterblich in dich verknallt ist, oder?» Diese Stimme beschert mir jedes Mal eine Gänsehaut. Eine Gänsehaut, die ich jeden Tag spüren möchte. Ich drehe mich um und sehe Jackson, wie er mich amüsiert angrinst. Er sieht so verdammt gut aus. Seine braunen Haare sind feucht und sehen fast so schwarz aus wie meine. Seine eisblauen Augen haben mir schon vom ersten Augenblick an den Atem geraubt. Er trägt seine blauen Badeshorts und dazu ein weisses Hemd. Jackson gibt im Camp Schwimmkurse. Extra dafür wurde ein Pool angebaut, den wir Leiter auch regelmässig benutzen dürfen. Also alles Luxus pur hier.
«Wer weiss, vielleicht bin ich ja auch ein bisschen verknallt.», gebe ich ihm als Antwort und drücke ihm ein paar Staffeleien in die Arme. Völlig entrüstet starrt er auf das Holz und dann zu mir und wieder zurück. «Was wird das?», fragt er spielerisch empört, doch ich ziehe nur die Schultern nach oben. «Ich brauche Hilfe und du bist gerade da.»
Jackson weiss, dass er nicht mit mir diskutieren muss. Ich bin ein Riesen Sturkopf und kriege eigentlich fast immer das, was ich will. «Na schön. Ich helfe dir die Sachen wegzuräumen, aber dafür wirst du mir nachher beim Lagerfeuer helfen.» Einmal in der Woche machen wir ein grosses Lagerfeuer am Strand. Ganz typisch werden dann Würste und Marshmallows gegrillt, Musik wird gespielt und Lieder gesungen. Ich weiss, der totale Kitsch,

aber es macht trotzdem verdammt viel Spass. Ich kann schon fast fühlen, wie meine Augen leuchten und meine Mundwinkel fahren ganz weit nach oben. «Gibt es auch Marshmallows?» Ich mache einen Schmollmund und klimpere, wie vorhin Andy, mit meinen Wimpern. Jackson fängt bei dem Anblick an zu lachen und schüttelt den Kopf, als er sich von mir abwendet und die Abstellkammer ansteuert. Schnell laufe ich ihm hinterher.
«Und?» Ich werde nicht lockerlassen. Ich öffne ihm die Türe und er legt die Holzgestelle an ihrem zugewiesenen Platz ab. Er kommt wieder raus und schliesst die Türe hinter sich. Er will mich tatsächlich quälen. «Hm, ich weiss nicht genau.», meint er und legt sich den Finger nachdenklich ans Kinn. «Ich glaube Mister Donalds hat was erwähnt, aber ich bin echt nicht mehr sicher.» Mister Donalds ist unser Campleiter und weil er mit meiner Klassenlehrerin verwandt ist, habe ich es ihm zu verdanken, dass ich heute hier bin. Er ist ein toller Leiter und Lehrer. «Jetzt spann mich doch nicht so auf die Folter.» Ich rüttle an Jacksons Armen doch er steht wie ein Fels in der Brandung. Irgendwann scheint er dann doch noch Erbarmen zu haben und nimmt ich in den Schwitzkasten. Ich mag es, wenn es zwischen uns so locker läuft. Von Anfang an hatten wir einen super Draht zueinander. Ich weiss, dass er eine Freundin in Los Angeles hat, aber manchmal kann ich meine abschweifenden Gedanken nicht mehr zurückhalten. Gerne würde ich wissen, wie sich seine Lippen anfühlen. Ob er ein guter Küsser ist und wie er wohl ohne Klamotten aussehen würde. Ich bin zwar keine Jungfrau mehr, aber wirklich Erfahrung in solchen Sachen habe ich nicht. Ich hatte ein einziges Mal Sex mit einem

Mitschüler, kurz vor Weihnachten. Aber das war der totale Flopp. Wie gesagt, Erfahrung habe ich nicht, aber auch ich weiss, was ein Orgasmus ist und dass es eher zu den schlechten Nummern gehört, wenn ein Typ schon nach zehn Sekunden kommt und dann einschläft. Naja, so viel dazu.
Aber ich weiss, dass Jackson tabu ist, als gebe ich mich mit dem zufrieden, was ich habe.
«Klar gibt es Marshmallows Baby. Was wäre ein Lagerfeuer ohne den geilen Süsskram.» Eine Totenwacht will ich fast einwerfen, lasse es aber dann doch sein. Ich befreie mich aus seinem Griff, ziehe mir mein schwarzes Top und die Jeansshorts zurecht, bevor ich lossprinte. «Wer zuerst am Strand ist.», rufe ich noch hinterher und lege einen Zahn zu, weil Jackson mir auch schon auf den Fersen ist. «Ich krieg dich!» Lachend rennen wir beide durch das halbe Camp und nehmen dann den schmalen Weg zum Strand. Ich kann die Holzplanken und Äste schon von hier aus sehen und ich erhöhe nochmal die Geschwindigkeit. «Du bist zu lahm Silver.», stichelt er mich weiter an und tatsächlich überholt er mich in der nächsten Sekunde. Mist!
Nach Atem ringend komme ich an meinem Ziel an. Meine Hände liegen auf meinen Knien und ich muss mich konzentrieren, dass ich nicht gleich in Ohnmacht falle. Meine Lungen brennen wie die Hölle. «Wo warst du denn? Hast du noch einen Zwischenstopp eingelegt? Ich warte seit gefühlten Stunden auf dich.» Jackson schmeisst noch ein paar Äste auf die Feuerstelle und tut so, als wäre er schon den ganzen Tag hier.

Ich glaube er schwitzt nicht mal. Wie kann das sein? Gott, ich bin so scheiss unsportlich. «Halt die Klappe!», blaffe ich ihn jetzt an und lasse mich auf den Sand fallen.
∞∞∞
Während Mister Donalds Ring of Fire von Johnny Cash auf seiner Gitarre zum Besten gibt, sorgen wir anderen Leiter dafür, dass das Feuer weiterhin brennt und die Kinder genügend zu essen bekommen. Als auch der letzte von ihnen versorgt ist, gönne ich mir eine kurze Verschnaufpause und ziehe mich ans Meer zurück. Ich liebe es hier draussen zu sein. In Utah haben wir ja gar keine Möglichkeit das Meer zu sehen. Bei uns zu Hause gibt es nur Staub, weite Prärie und manchmal fliegt sogar ein Strohballen umher. Aber mehr gibt es dort eigentlich nicht zu sehen. Ich ziehe mir meinen Hoodie über und setze mich in den Sand. Das Wasser ist heute Abend sehr ruhig und das Rauschen beruhigt all meine Sinne. Die Welt scheint hier wie in Watte verpackt zu sein. Herrlich. Ich will nie wieder weg. Meine Zehen graben sich in den kühlen Sand, der Mond scheint und lässt die kleinen Wellen glitzern. Es sieht aus, wie in einem Traum.
«Darf ich mich setzen?» Ich hebe meinen Kopf und sehe Jackson wie er auf mich zuläuft. Auch er ist barfuss und trägt einen Hoodie. Seine Haare sind jetzt unter einem Cap versteckt, welches er verkehrtherum aufgesetzt hat. Er sieht heiss aus. Und dann noch dieses unverschämte Lächeln. Gott, er ist fast jede Sünde wert.

Ich rücke ein Stück zur Seite, obwohl hier mehr als genug freier Platz ist. «Klar.» Jackson setzt sich neben mich und unsere Oberschenkel berühren sich dabei. Aber es scheint ihn nicht zu stören, er bewegt sich keinen Millimeter weg. «Ich hab dir was mitgebracht.» Wie von Zauberhand holt er einen gegrillten Marshmallow hinter seinem Rücken hervor. Er steckt sogar schon zwischen zwei Keksen fest und hat einen Schokoklecks auf dem Dach. Genau wie ich sie mag. «Oh mein Gott. Ist das dein Ernst?» Ich glaube, dass meine Stimme anfängt zu piepsen. «Klar. Ich kenne dich doch. Du versorgst zuerst immer alle anderen und vergisst dann dich selbst. Deshalb habe ich einen für dich gesichert.» Ist er nicht total süss?
«Danke Jack.» herzhaft beisse ich in den Keks und ich fange sofort an zu stöhnen. «Oh…mein…Goff…daff..is…soooooo guuutttt.» Ich weiss mit vollen Mund sollte man nicht reden, aber dieser Geschmack, das ist eine Explosion der Sinne, eine verdammte Offenbarung. Ich liebe es. Jackson neben mir fängt an zu lachen und ich schlucke hastig alles runter. Gott, nur dafür lohnt es sich sich Ring of Fire reinzuziehen. «Du bist mein Held Jackson Raines.» Und das meine ich total ernst. Er verwöhnt mich nach Strich und Faden. Ich lecke mir die Finger sauber, ich will ja nichts verschwenden. «Warte, du hast das was.» Mit dem Daumen fährt er meine Unterlippe nach und streicht dabei ein bisschen Schokolade weg. Er schiebt sich seine Fingerkuppe in den Mund und saugt daran. «Mh, du hast recht, das ist echt lecker.», meint er beiläufig und saugt einfach weiter. Weiss er eigentlich, wie verdammt sexy das aussieht? Ich denke nicht. Gerade stelle ich mir vor, wie er etwas anderes

an meinem Körper so zwischen seine Lippen zieht und sich daran festsaugt. «Hm.», mache ich völlig unbewusst und starre zu Jackson rüber. Ihm ist es nicht entgangen, dass ich ihn anstarre und auch sein Blick heftet sich jetzt an meine Lippen. Mein Oberkörper neigt sich zu ihm rüber, ich recke ihm mein Gesicht entgegen und schliesse die Augen. Wird es passieren? Wird er mich küssen oder mache ich mich hier gerade völlig zum Deppen?
Und bevor ich darüber nachdenken kann, wohin ich auswandern soll, legen sich seine weichen Lippen auch schon auf meine. Fuck! Jackson küsst mich tatsächlich und er ist so verdammt gut. Genau wie ich gehofft hatte. Seine Lippen sind weich und er bewegt sie so auf meinen, als wäre ein Profi. Er weiss genau was er da tut. Meine Hand findet ihren Weg auf seinen Nacken und ich ziehe ihn noch näher an mich ran. Er riecht fantastisch, nach Meer, nach Minze. Einfach süchtig machend. Und ich will mehr. Ohne unsere Lippen voneinander zu trennen, setze ich mich rittlings auf ihn und halte sein Gesicht jetzt mit beiden Händen gefangen. Jacksons Hände liegen auf meiner Taille und halten mich an Ort und Stelle fest. Mit einer sanften Bewegung streiche ich mit meiner Zunge über seine Unterlippe und verlange nach Einlass. Er gewährt ihn mir sofort und öffnet seinen Mund, damit sich unsere Zungen vereinen können. Heiliger Strohsack! Jacksons Mund, seine Zunge und dann auch noch der Schokoladengeschmack sind das pure Paradies. Unser Kuss wird wilder und stürmischer, ich reibe mich an seinem Körper und suche nach der Erlösung, die meine Mitte so sehr verlangt. Aber es ist alles zu wenig.

«Nicht hier.», raunt Jackson zwischen unseren Lippen hindurch. Erst jetzt fällt mir wieder ein, wo wir uns eigentlich gerade befinden. Oha. Fast hätten wir hier eine kleine Peep-Show vor den Kids aufgeführt. Ich löse meine Lippen von seinen und wir blicken uns lange tief in die Augen. Was mag wohl in seinem Kopf vorgehen? Was machen wir als nächstes?
Aber diese Fragen bleiben unbeantwortet, weil mein Handy mit einem ziemlich nervigen Klingenton unsere Zweisamkeit harsch unterbricht. Da ich genau weiss, wer es ist, rolle ich mit den Augen. «Tut mir leid, aber da muss ich einfach rangehen.» Mit den Händen fährt sich Jackson über das Gesicht, so als ob er sich wieder zur Besinnung zurückholen will. Ich erhebe mich, greife in die Aussentasche meines Hoodies und hole das Handy hervor. «Hey Mom.», nehme ich den Anruf entgegen und gehe ein paar Schritte zum Wasser rüber. «Hey Silver. Wie geht es meinem Schatz?», fragt sie mich und ich kann hören, dass sie geweint hat. «Mom, was ist los?» Mein ganzer Körper spannt sich wie eine Feder und jedes Glück, das ich vorhin noch verspürt habe, ist wie weggeblasen. «Mom?», frage ich wieder, da ich noch keine Antwort bekommen habe. «Schatz…» sie schluchzt wieder auf. «…es tut mir leid, dass ich dich störe, aber ich muss dir was sagen.»
Und die nächsten Worte, die aus dem Hörer zu mir kommen, lassen meine ganze Welt in Stücke

Mein Leben ohne DichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt