Lärm

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Hier ist es niemals ruhig. Hier gibt es keine Ruhe. Ich schließe die Augen, doch sehe ich vor mir den Lärm. Aus jeder Ecke dröhnt er. Die Straße vor meinem Fenster ist ein einziges Rauschen. Keine Höhen. Keine Tiefen. Nur ein einziges Geräusch. Lärm.

Es ist mein Meer, welches ich von meiner 10 Quadratmeter großen Loge aus beobachte. Ich beobachte das Spektakel zu meinen Füßen. Ich schaue zu, weil ich nichts anderes machen kann. Wenn ich nicht hinsehe, ist der Lärm doch da. Und wenn ich zusehe, erblicke ich wenigstens die Farben. Fahrzeuge, Menschen, Tiere und Lärm.

Ich setze meine Kopfhörer auf und stelle mich dem Kampf. Trete dem Lärm mit meinen Waffen entgegen. Mein Arsenal ist gut sortiert und ich bin bereit, den Sieg davon zu tragen. Aber gebe mich recht schnell geschlagen. Es ist egal welches Lied ich auf meinem Smartphone auswähle, ob Podcast, oder Hörbuch, das Ergebnis bleibt das Gleiche: Lärm.

Meine Kopfhörer, die meine Verbündeten in dieser Schlacht sein sollten, entpuppen sich als Überläufer. Sie kämpfen in den Reihen des Feindes und stellen sich gegen mich. Anstatt mir eine Ausflucht zu zeigen, geißeln sie mich noch schärfer, als der Feind es könnte. Ich reiße sie von meinen Ohren und befreie mich von dieser Tortur. Doch ist dies kein Sieg. Der Feind ist noch immer dort. Seine bloße Anwesenheit ist reinster Hohn. Er lächelt mir entgegen. Seine Augen funkeln, sich seines Triumphes labend. Sein Lächeln ist so breit, dass mich seine weißen Zähne an glänzen. Er schweigt. Er schaut nur. Doch es ist Lärm.

Ich presse meine Hände auf meine Ohren. Verzweifelt, möchte ich den Schmerz eindämmen. Aber er stiehlt sich durch meine Finger. Es gibt kein Entkommen. Ich bin ihm ausgeliefert. Es obsiegt der Lärm.

Dennoch gebe ich mich nicht geschlagen. Ich ziehe meine Schuhe über und trete hinaus. Ich gehe in die Offensive. Ich verlasse meine infiltrierte Festung und betrete das offene Feld. Es wird hell und es ist kalt. Doch über allem ist Lärm.

Hier draußen ist er noch viel mächtiger. Um mich herum hohe Wände. Vor mir Lärm.

Ich muss weiter. Er kann doch nicht überall sein. Oder habe ich ihn unterschätzt? Ich gehe die Straße entlang. Umringt von rasenden Fahrzeugen, eilenden Menschen und unruhigem Getier. Meine Schritte führen weiter. Mein Blick richtet sich auf die Abgeschiedenheit. Ich suche Wege, die mich in die Einsamkeit führen. Ich schaue in jede Kreuzung. Doch jeder Blick zeigt mir nur noch mehr der Unruhe. Hier brüllen Kinder. Dort streiten Menschen. Eine Straße weiter bellen zwei Hunde. Und hinter mir heult ein Motor auf. Ich befinde mich im Zentrum der Zivilisation. Im Umkreis von Hundert Metern gibt es alles, was wonach ein Mensch begehren kann. Alles außer Ruhe. Ich realisiere, dass ich mich in die Höhle des Löwen begeben habe. Ich bin die Offensive angetreten und meinem Gegner direkt in die Falle gegangen. Ich befinde mich in seinem Königreich. Hier draußen in der Stadt regiert der Lärm.

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