Zwei

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Noah war zwei Jahre älter als ich und an der Schule ein herausragender Sportler. Ich weiß zwar nicht genau, wie er es machte, aber seine Noten litten niemals unter dem Training. Er war sogar so gut, dass es ihm ein Stipendium an der Uni einbrachte, wo er ab Herbst jeden Tag damit verbringen konnte, sportliche Taktiken zu studieren, um vielleicht irgendwann einmal selbst aktiv zu sein.

Viele beurteilten ihn nur aufgrund seines athletischen Körpers. Eben der typische Sportler, der sich über Schwächere lustig machte und Streber verprügelte, doch das war er nicht. Noah war, man kann es nicht anders sagen, liebenswürdig. Er machte keine Unterschiede zwischen den Schülern, unterhielt sich mit jedem und versuchte oft, den Leuten aus der Patsche zu helfen.

Auch zu Hause war er der perfekte Bruder und versuchte, mir das Leben zu erleichtern, indem er mir zuhörte oder mich bei unseren Eltern verteidigte. Er schien zu verstehen, dass ich unglücklich war und wollte mir so lange wie möglich unter die Arme greifen, bis ich meinen Platz in der Welt gefunden hatte. Deswegen machte er mir an schweren Tagen Frühstück.

Selbst wenn ich es niemals über die Lippen brachte, er bedeutete mir alles. Ein gutmütiger Riese, den ich mehr liebte als jeden anderen.

»Du musst das nicht immer machen«, sagte ich leise, während ich das Frühstück direkt aus der Pfanne schaufelte.

»Ja, ich weiß«, gab er im selben Tonfall zurück. »Beeil dich gefälligst, du kommst noch zu spät!«

»Und was ist mit dir?«, fragte ich frech und stellte die Pfanne in die Spüle, damit sie jemand anders abwaschen konnte.

»Die können froh sein, wenn ich heute überhaupt auftauche!«, hörte ich Noah hinter der zugefallenen Tür lachen, dann war ich unterwegs.

Wir lebten in einer kleinen Wohnung am Rande der Großstadt, welche zu jeder Tages- und Nachtzeit beleuchtet war. Viele Reiseführer schwärmten von der herausragenden Vielfalt, die hier zu finden war. Ich konnte jedoch nichts Interessantes entdecken. Vielleicht lag es daran, dass ich hier wohnte.

Mein Weg in die Stadt und somit zur Schule dauerte mit der U-Bahn ungefähr zwanzig Minuten, während derer ich beide Ohren mit Musik beschäftigte. Mein Blick war stets aus dem Fenster gerichtet, sodass ich niemanden ansehen musste. Da ich kurz nach der Endstation einstieg, hatte ich immer einen Sitzplatz und musste mich nicht zwischen lauter Unbekannte quetschen, die mich am Ende vielleicht auch noch angesprochen hätten.

Das Schulgebäude an sich war ganz in Ordnung – ein Altbau, der bereits zur Jugendzeit meiner Eltern gestanden hatte. Eine Klimaanlage gab es nicht, die Heizung wurde nie benutzt. Im Sommer wurde man in den oberen Stockwerken gekocht, im Winter schrien einen die Lehrer an, wenn man einschlief. Nicht, dass man besser aufpassen sollte, sondern damit man nicht erfror. Ansonsten ließen sie die Schüler in Ruhe. Wenn du lernen wolltest, bitte schön, wenn nicht, auch gut. Hauptsache du störtest den Unterricht nicht.

Es gab jede Menge Kurse, die man nach der Schule kostenlos besuchen konnte, falls man zum Beispiel ein Instrument erlernen oder eine Sportart betreiben wollte. Merkwürdigerweise rochen alle Klassenräume ein wenig nach Käse und es gab die verrücktesten Erklärungsversuche. Eine Legende besagte, dass man zur Zeit einer Rattenplage versucht hatte, das Ungeziefer zu fangen und deswegen massenhaft vergifteten Käse in die Zwischenwände gestopft hatte. Die Ratten hatte man irgendwann gefunden, den Käse nie wieder. Noch heute wird allen ein wenig unbehaglich, wenn jemand ein Käsebrötchen mitbringt.

Ein Höhepunkt war das Mittagessen, da ließen sie sich wirklich etwas einfallen. Jeden Tag gab es eine andere Spezialität und wenn sie wollten, dass alle Schüler anwesend waren, dann stand Pizza auf der Speisekarte. So wie heute.

Ein kluger Schachzug. 

Die WeltenwanderinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt