Drei

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Am großen Eingangstor stand meine beste Freundin Enya, um mich zu begrüßen. Jeden Tag wartete sie auf mich, damit wir das Schulgebäude zusammen betreten konnten. In all den Jahren unserer Freundschaft war ich noch nie zuerst in der Schule gewesen.

Ich hatte nicht viele Freunde, deswegen liebte ich sie besonders. Wir kannten uns von klein auf, waren zusammen in den Kindergarten, die Grundschule und letztendlich auf die Oberschule gegangen, immer Seite an Seite. Wenn ich Angst vor einer Prüfung hatte, lernte sie mit mir; wenn sie angemacht wurde, verjagte ich die miesen Typen. Neben Noah war sie der Mensch, der sich die meiste Mühe mit mir gab.

»Du bist spät dran«, rief sie mir von Weitem zu.

»Halbjahresnoten«, erwiderte ich dumpf und das musste als Erklärung reichen. Sie sah mich mitfühlend an, doch schnell verzogen sich die Wolken.

»Schau hier!«

Sie hielt mir ihr Handy unter die Nase und zunächst war ich verwirrt, aber dann fiel mir auf, dass es nagelneu war. Es war eines dieser schicken Smartphones, die jeder hatte und die alles konnten, außer die Milch besorgen. Bei genauerem Hinsehen bemerkte ich, dass sie das gleiche Modell hatte wie ich. Vor Monaten hatte ich meinen Eltern das Versprechen gegeben, viel bessere Noten mit nach Hause zu bringen, wenn sie mir ein neues Handy kauften. Ich bekam, was ich wollte, aber es dauerte nicht lange, bis meine Eltern begriffen, dass sie von meinem Teil der Abmachung nicht viel erwarten konnten.

»Oooooh«, sagte ich langgezogen, als sei das Handy das tollste Ding der Welt, obwohl ich es bereits seit Wochen selbst besaß.

»Nicht wahr?! Ich wollte genau das gleiche wie du haben, damit wir etwas gemeinsam haben!«

Ich sah sie an und wusste genau, was sie meinte. Enya war einfach ... fantastisch. Ihr kastanienbraunes Haar fiel wie ein seidiger Vorhang über den schmalen Körper. Bambiaugen und weiche Gesichtszüge verliehen ihr das Bild einer klassischen Schönheit. Wenn man mich neben ihr betrachtete, fiel es besonders auf - ich war ihr genaues Gegenteil.

An diesem schicksalhaften Tag trug sie zusätzlich noch einen weißen Haarreifen, der mit lauter kleinen, weißen Rosen verziert war, und sie wie eine Porzellanpuppe wirken ließ. Viele Leute fragten sich, warum ausgerechnet wir befreundet waren und wir antworteten immer, dass jede schlanke Schönheit eine dicke Freundin brauchte, um hervorzustechen. Es war vielleicht nicht nett, aber wahr.

»Was hältst du davon?«, fragte ich sie.

»Na ja, bis jetzt ist es nicht besonders smart«, antwortete sie und schaute missmutig auf ihr neues Handy.

»Ach, das denkt es von dir sicherlich auch!« Ich lächelte, denn zumindest in einem konnte sie mir nichts vormachen - Schlagfertigkeit. Genau wie mein Bruder war auch Enya in manchen Dingen nicht die Schnellste.

»Dein loses Mundwerk wird dich noch mal in Schwierigkeiten bringen«, schmunzelte sie.

»Meinst du? Bis jetzt hat es mir immer nur geholfen!«

Sie lachte. »Ich beneide dich. Am liebsten hätte ich auch immer einen cleveren Spruch parat.«

Für einen kurzen Moment überlegte ich, ob Enya sich über mich lustig machte, denn was gab es da zu beneiden? Dann fiel mir ein, dass sie meine älteste Freundin war. Verstohlen sah ich sie von der Seite an. Nein, sie musste wirklich nicht neidisch sein, ganz im Gegenteil: schön, klug und beliebt, wie sie war, gab es nicht einen Tag, an dem ich mir nicht mindestens einmal wünschte, so wie sie zu sein.

Die Schüler um uns herum schwärmten in die Schule. Manchmal verirrte sich ein Ellbogen in meine Rippen oder ein Fuß traf mich am Schienbein, aber über die Jahre hatte ich mich daran gewöhnt.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 05 ⏰

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