Gnadengedanken

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Eine Spinne lauert ihren Besuchern in ihrem Netz auf. Sie hat es sorgfältig und mit ihren Künsten des Instinkts gesponnen, nachdem sie einen sicheren Ort suchte und fand. Wenn ihr Werk vollendet ist, sitzt sie in eine Ecke ihrer für andere unsichtbaren Welt und wartet, bis sich jemand darin verfängt. Es liegt in der Natur der Spinne, sich zu verstecken, da sonst niemand jemals kommen würde. Also denkt sie nicht, sie sitzt nur dort, an ihrem vorhergesehenen Platz. Ihre Welt ist stabil, sie braucht sie zum Überleben und sorgt sich um sie. Stunden, Tage, Minuten vergehen, während die Spinne in den Schatten ihrer selbst ruht und die Sonne auf- und untergehen sieht. Ein stolzes Schiff, welches jeden Tag wiederkehrt und doch jedes Mal untergeht. Wie dieses wogende und überlebenswichtige Schiff, wird irgendwann, abrupt und unvermeidlich, ihr Netz zerstört. Es kann jederzeit passieren, durch offensichtliche Stürme aber auch ein leichter Windhauch, kommend aus dem perfekten Winkel, könnte ihre Welt für immer vernichten. Die einzigen Hinweise auf ihre Existenz an diesem Ort würden zarte Stränge feinster Seide sein, die haltlos an ihrem ursprünglichen Platz schwingen, unbemerkte und verblassende Gräber einer ganzen, einer verlorenen Welt, erschaffen und verschwunden im Verborgenen. Die Spinne denkt nicht, sie sucht sich einen neuen Platz für ihre Welt. Sie wird eine neue ungesehene Welt für sich erschaffen, gleich wie die vorige und doch so schmerzend anders. Nur die Sonne am Morgen und der schwere Tau der Nacht können sie bemerkbar machen. Während sie also sichtbar ist, wird sie ignoriert. Und so wird die Spinne im neuen Schatten vor sich hindenken, den Sinn ihres Lebens suchen und ihn nicht finden. Ihre Angst und Zweifel werden in durch Einsamkeit angefeuerten Hass verwandelt. Was wird mit den Besuchern ihrer Welt geschehen, wenn die Besitzerin voller Hass und Abscheu ist? Eingewickelt in den weichen Kokon der Lügen werden sie langsam ausgesaugt und umgebracht, dann weggeworfen. Ein qualvoller Tod durch das qualvolle Schicksal der Spinne, gezeugt durch Denken, dessen Fehlern und Wahrheiten. Aber warum sollte eine Spinne anfangen zu denken?

Eine babyblaue Vesperdose, die eine heile Welt vorlügte in einem verlassenen Lagerhaus, ihr Gefängnis. Kalter Beton in den unansehlichsten Farbvariation pflasterte Bens Sicht ein, und in der Mitte das unsterbliche Mädchen. Die klischeehafte und zugleich schockierende Art, mit der sie an den Ketten hing, verlieh der Situation einen absurden Nachgeschmack. Das stete Tropfen der feuchten Decke, der modrig-verwesende Geruch und allem voran Ben selbst schienen ihm so surreal. Er umklammerte die heile Welt in seinen Händen, schaute sich mit Angst und Verwirrung in seinen Augen um und wusste nicht, wieso er sich darauf eingelassen hatte. Drei Monate, gefüllt mit schlaflosen Nächten, ungewissen Versprechungen und diesem Mädchen. Sie überwindet die Schranken der Zeit, knackt ihre warnenden Schlösser und fiel kopfüber in den Strudel der wärmenden Stunden. Doch der Wind kühlte und ließ sie langsam frieren, ließ ihre Feuer auf den letzten Funken Hoffnung runter brennen. Umhüllt von Kälte und Dunkelheit glimmt der Funke, droht schon lange zu erlöschen und sie erfrieren zu lassen, ihr Dasein als wandelnde Schaufensterpuppe in einer Welt der Illusionen zu fristen. Vor ihm gestanden hatte sie, eine Pistole an ihren Kopf haltend und still um Hilfe brüllend.

Die stumpfe Eiseskälte ihrer Augen hatte sich in ihm ausgebreitet und ihn Bewegungsunfähig gemacht. Als er auf dem Boden festgefroren gebettelt hatte, sie möge sich nicht erschießen, erwiderte sie lediglich einen Satz: "Du glaubst mir nicht?" Dieser Satz war ihr Wärme für ihren Funken, ihr schmerzendes Netz. Hunderte von Malen, in verschiedenen Höflichkeitsformen, in Briefen und Telegrammen, in Worten und als Drohung hatte sie diesen Satz bereits wiederholt gehabt. Und jedes Mal war es ein Zeichen an sie selbst gewesen, sich ein weiteres Mal von dem Antlitz der Erde zu stoßen, so plötzlich und laut wie der Pistolenschuss. Ihr Leben, ihr rotes Schicksal, breitete sich langsam auf dem kalten Boden des Labors aus, doch die weißen Fliesen sogen es nicht auf, sie stießen das Blut ab. Nur getrocknete Überreste in den Fugen würden bleiben, wie die Narben auf der Haut. Und so stand sie wieder auf, ein Loch in ihrem Kopf und ihrem Verstand, während ihr Feuer liegen blieb, bis auf den hartnäckigen, geschwächten Funken, der sich mit ihr hoch hievte. Sie aber fragte ihn nur, keuchend und stöhnend:" Beweis genug?" Ben hatte auf das Blut gestarrt, seine Augen versanken in dem Meer aus Rot und seiner weißen Küste, eine Welt des Kontrasts. Sie fragte ihn immer wieder, lauter werdend und zornig, den Funken in ihr anspornend. Sie schrie ihn an, doch er hörte sie nur dumpf, wie ein heulendes Kind auf der Straße. „Warum antwortest du nicht?! Du verdammter Idiot bist meine einzige Hoffn-" Sie stoppte abrupt, als er sie anschaute, wirbelnde Verwirrung und Angst in seinen Augen. Er öffnete seinen Mund und schloss ihn wieder, als sei er stumm. Seine Gedanken machten ihn stumm, konnten nicht in bloße, unbedeutsame Worte gefasst werden. Stattdessen fragte er eine seiner unzählbaren Fragen an sie, etwas Offensichtliches und doch nicht Sicheres: „Tut..." er deutete auf ihren Kopf, „es sehr weh?" Unglaube sammelte sich in ihren Augen, verschlang für einen Moment die unbeugsame Leere. Es schien wie eine Explosion, als ihre Augen anfingen einen menschlichen, einen emotionalen Glanz zu bekommen, der jedoch von der Fassung erstickt und von der Wut getötet wurde. Sie sprang förmlich die wenigen Schritte zu ihm und ihre Faust traf ihn wie die Realität, die er nicht finden konnte. Blut und andere Flüssigkeiten rannen aus ihrer Wunde, und sie fiel auf die Knie. Während sie nach Luft schnappte, antworte sie ihm, ihre Stimme ein Gemisch aus Schmerz und grollender Wut, die unterschwellige Trauer übertönte: „Natürlich schmerzt es, du verdammter..." sie pausierte, und ihr plötzlicher Schrei ließ Ben aufschrecken" aber es wird niemals, nie in diesem verfluchten Kreislauf, mich jemals so foltern wie meine Verzweiflung! Verstehst du das?" Sie schaute ihn an, als ihre Dämme brachen und sie sein Bein schlug, schwach und immer wieder. „Egal was ich tue, es ergibt keinen Sinn. Egal wenn ich treffe, er stirbt. Nein, nicht er stirbt, sondern ich überlebe. Ich altere, setze mich nach 90 weiteren Jahren des quälenden Lebens in einen Stuhl und entschlafe, nur um jung und doch senil wieder aufzuwachen. Ich warte Stunden, starre auf die Gegenstände vor mir, bis mein Gehirn sich langsam an mein Alter gewöhnt. Ich verbrachte schon so viele leere Tage vor einer Wand, einem Spiegel, Gemälden und einfachen Wohnzimmerlampen, und keines ergab einen Sinn. Wieso bin ich so? Warum wurde es gemalt? Wer lebte vor mir hier, strich entlang dieser Wand, entschied sich für die Farbe und lebte Tag ein, Tag aus eine gnädig befristete Zeit hier? Wieso? Warum? Wann? Wieso?" Als ihre übersprudelnden Worte ein Ende fanden, ihre Augen sich senkten und den besprenkelten Boden, ungleich und doch regelmäßig, betrachteten, fühlte sie etwas Warmes, etwas Weiches an ihrer Wange. Ihr Blick erhob sich langsam, traf seine müden, schockierten und doch sanften Augen. Er nahm ein weiteres Taschentuch und fing an, ihr Gesicht zu säubern, sie zu verarzten und sie auf einen Stuhl zu setzen. Sie ließ seine Aktionen unkommentiert, doch schaute sie ihm die ganze Zeit in seine braunen Augen, die zwei großen Kugeln aus warmen Mahagoni Holz glichen. Und immer erwiederten diese schlichten und doch kostbaren Perlen ihren Blick, schienen die ihr ganzes Fristen bestimmende Zeit unscheinbar wirken zu lassen. Wie warme Regentropfen nach einem ermüdend heißem Sommertag fühlten sich seine kurzen, weichen Berührungen an. Und so ließ er sich auf ihre Bitte ein. Eine stockfinstere Nacht war es gewesen, die ihrem Funken Kraft geben sollte und ihm ein Ziel. Doch auch jeder noch so große, flimmernde Funke erlischt, wenn er auf den kalten Boden fällt.

Ihr Husten holte ihn in den surrealen Albtraum zurück, der sich derzeit Realität nannte. Als Ben sie erneut betrachtete, fiel alle Nervosität von ihm ab, er schritt langsam durch die Pfützen des verlassenen Raumes und setzte sich ihm Schneidersitz vor sie, dem einzigen trockenen Platz in der Halle. Wie eine Insel war dieser Platz, eine einsame Insel auf der die Hemmungen der Wirklichkeit abfallen und sie ihre Gefühle zeigen konnte. Vorsichtig öffnete Ben die babyblaue, heile Welt. Er stellte die Dose auf den Boden, nahm einen der sorgfältig geschnittenen Apfelstücke, strich ihr sanft das Haar aus dem Gesicht und schob ihr die Nahrung in den Mund. Beinahe fiel das erfrischende Fruchtstück heraus, doch er hob aufmerksam ihren Kopf. Ausgemergelt sah sie aus, traurig und verschlossen. Langsam und fürsorglich nahm er ihren Kiefer und führte Kaubewegungen aus, bis sie den zerkauten Apfel schluckte. Sein Blick huschte ruhig über ihre wunden Hangelenke, die rotgetränkten Stränge. Er löste die Knoten, die ihre Arme weitgespreizt an die kalte Wand drückten. Er nahm ein Taschentuch, tupfte das Blut ab und holte sauberes Wasser, um die Wunden zu Reinigen. Gestohlene Bettlaken, in lange Streifen gerissen, dienten als Verbände. Er war schon nun seit Stunden mit ihr auf dieser Insel, auf der sie von ihrem Entführer verlassen worden war und auf der sie noch kein Wort gesprochen hatte. Behutsam hob er sie hoch, setzte sich in und legte sie auf sich, seinen großen XXL Parka um sie schließend und seine Wärme mit ihr teilend. Sein breiter Rücken bat ihr Schutz, während sie beide an der kalten Mauer lehnten. Ben fing wieder an, sie zu füttern, ihren Kiefer vorsichtig zu bewegen, bis sie den Brei leicht schlucken konnte. Er wischte den Dreck und die getrockneten Tränen von ihrem Gesicht, bot ihr den Schutz des Freundes, den sie still und leise annahm. Irgendwann war die heile Welt leer und ihr schien es besser zu gehen, ihr Atem war regelmäßig. Mahagonifarbene Perlen folgten den kleinen Wolken, die selbst im schmutzigen Licht leicht wie eine Feder waren, losgelöst von den Illusionen und doch selbst eine. Ben hörte ein Räuspern und schließlich drang ihre Stimme durch seine kalten Ohren. "Glaubst du daran, dass man Gutes und Böses unterscheiden kann?" Sein Blick wanderte nach oben, um die schmutzigen Farben ihrer Insel einzufangen. "Ja." "Wirklich?" "Wieso nicht?" Ein langes Schweigen folgte, die Ruhe vor dem Sturm. "Sagen wir, ein Mann steht am Rand einer Klippe und eine Frau stößt ihn hinunter. Wer ist böse?" Zögernd und von dieser fast schon kindlichen, und doch verwirrenden Frage, antwortete er: " Die Frau." Seine Meinung im Raum stehend lassend, fuhr sie fort. "Wir drehen die Zeit ein bisschen zurück, 10 Jahre ungefähr. Die Frau muss die Krankenhauskosten ihres schwerkranken Vaters bezahlen und leiht sich Geld. Unwissend ist sie dabei an einen Wucherer gekommen, den Mann. Die nächsten 10 Jahre kann die Frau nichts ihr Eigen nennen, ihr Vater stirbt und wird auf eine Müllhalde geworfen, da sie sich keine Beerdigung leisten kann. Hinter ihr steht immer der Mann, treibt sie in eine Ecke ohne Fluchtweg und verspottet sie. Ihr Leben wurde zu einem einzigen Wandel des Arbeitens, Wunden Versorgens und Verzweifelns. Irgendwann nach diesen 10 Jahren kann die Frau nicht mehr weitermachen, es stellte sich heraus dass sie ihres Vaters Krankheit geerbt hat. Nachdem für 2 Monate kein Geld mehr angekommen war, lässt der Mann die Frau entführen. Sie wird viel geschlagen und vergewaltigt, ihre lauten Schreie bleiben ungehört. Und dann, durch eine Reihe von Ereignissen, gelangen wir zu der am Anfang beschriebenen Situation. Der Mann steht an der Klippe, schreit und winselt um Hilfe und Gnade. Erstarrt schaut die Frau den Mann an. Würde er jetzt sterben, wäre sie frei. Könnte Geld verdienen und ihre Krankheit behandeln lassen. Würde sie ihn jetzt nur leicht schubsen, könnte sie endlich wieder atmen. Also gibt sie ihm einen kräftigen Stoß und er stirbt. Für ihre Freiheit bezahlte sie ein Leben und warf ihre Menschlichkeit fort. Jedoch tötete Sie einen Menschen, der nur der Moral des Geldes gefolgt war. Wer ist gut?" Ihre Gesichter immer noch von einander abgewandt, legte sich eine neue Stille auf die Insel. Sie nickte nur wissend über seine Antwort. Ruhe kehrte wieder ein, doch plötzlich schallte Bens Stimme durch den Saal. "Was ist aus der Frau geworden?" "Sie starb drei Wochen später an dem Vermächtnis ihres Vaters. Aber verstehst du? Man kann gut und böse nicht unterscheiden, besonders nicht ohne die Geschichte zu kennen. Und so leben wir in einer Welt der Ilusionen, nicht fähig unsere zwei Seiten zu akzeptieren. Mein Entführer hat es vielleicht für seine Familie getan, vielleicht auch nur für sich selbst. Wer weiß?" "Aber wenn man lange genug darüber nachdenkt..." "Jeder Gedanke hat einen Fehler, die wenigsten sind pure Wahrheit. Jeder nimmt an, dass seine Gedanken die richtigen sind, und die Fehler häufen sich zu der Last des Denkens, die man nicht ablegen kann und die einen irgendwann erdrücken und zerstören." Die darauffolgende Stille hielt an, und weder er noch sie wussten wie lange sie noch in der alten Lagerhalle gesessen waren, den fliegenden Illusionen ihrer Worte nachblickten und versuchten, die Wahrheit zu finden.

GnadentodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt