Das Gnadenende: Die Gnadenworte

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Das blendende Licht der Anstalt schmerzte in seinen Augen und er fühlte neben seinen tausend Fragen die schleichende Verwirrung und Panik, die er vor diesem Treffen hatte. Der junge Pfleger, der ruhigen Schrittes neben ihm lief, ein fester Fels in der Brandung des Wahnsinns, pfiff eine leise Melodie vor sich hin. Die Stimmung dieses Liedes, egal wie tiefsinnig sie auch klang, passte nicht an diesen Ort. Sie erzählte von Erinnerungen, an die schönen und die traurigen, doch konnte man nicht anders als loszulassen mit Freudentränen über die schönen Momente, die das Herz nun beflügelten, statt es als ständige Last zu zerstören. Die leichten Noten, die immer schneller durch die Luft schallten und ihren Weg durch die Zimmer suchte, prallte an den Leuten ab und verflogen. Diese Anstalt ist ein Ort des Vergessens, nicht des Abschieds oder der Überwindung. Nur simples Vergessen von im Gedächtnis eingebrannten Erinnerungen. Eine Schöhnheitsoperation im Kopf, deren Narben von weißen Ärmeln verdeckt werden würden. Überall, die Wände, die Türen, ja sogar die Stühle waren weiß gestrichen. Die strahlende Farbe nahm einem nach der Zeit das fühlende Augenlicht, ihre Unbeflecktheit die kritischen Zweifel. Mit dem Weiß sollten sich die Gedanken der Patienten fügen, doch gab es ihnen nur Leere. Das Gesehene, Kriege und Leid. Das Vollbrachte, Missbrauch und Mord, dessen Reue und schwere Schuld, die Tag ein, Tag aus die Sicht vernebelte. Das Gefühlte, Angst und Verzweiflung. Selbst das schönste Weiß wird niemals mehr diese Erfahrungen entfernen können, doch strahlt für die Dunklen das alltägliche 'Bunt' umso mehr. Verbannt an diesen Ort der Farblosigkeit war auch sie, deren Zelle Ben und der Pfleger immer näher kamen. Die solide, stählerne Tür markierte einen Abgrund, der nie hätte geöffnet werden sollen, eine besser ungehörte Leidensgeschichte, die schon Jahrhunderte andauerte.

Und so betraten sie das 'Zimmer', in dem sie, dem Pfleger nach, wohnen sollte. Entgegen seiner Erwartungen sah Ben nicht weiß. Es war schwarz. Sobald die massive Tür hinter ihnen zufiel und ihr weitreichender Donner verhallt war, verstand Ben. Es waren keine schwarz gestrichenen Wände, es war gänzlich dunkel. Für einen Moment verschwand Ben aus der Realität, versank komplett in dieser stillen Schwärze, die ihr Alltag geworden war.

Und der Moment schien unendlich, bis ein ein metallernes Gewitter, ausgelöst durch den stählernen Schalter, den Raum erleuchtete. Erneut ließ das plötzliche Licht Ben beinahe erblinden, Funken sprangen in seiner Sicht wie Regentropfen in eine Pfütze. Seine mahagonifarbenen Augen huschten umher, überprüften die Lage. Vor ihnen erstreckte sich beinahe ein Saal, das Ungewisse in einen Raum gezwungen. Und in der Mitte, ein gläserner Raum. Die Scheiben vermochten knapp einen Meter Durchmesser zu besitzen, meinten ein Zeichen der gefangenen Freiheit zu sein. Und in dieser gefangenen Freiheit saß sie. Wieder fesgekettet. Ihr wirres Haar hing ihr strähnig hinab, verdeckte ihr Gesicht beinahe vollkommen und gab nur stellenweise ihren verzweifelten Wahnsinn preis. Ben merkte eiserne Flüsse von Tränen in sich aufkommen, unaufhaltbare Wahrheiten seiner Verlorenheit. Der ruhige Fels aber stand jeglichen schweren Stimmungen stand und schritt mit fast schon verspottender Munterkeit auf die abgesicherte Tür zu, um Ben Einlass in ihren Wahnsinn zu gelassen. Lautlos ließ sie sich öffnen, der Fels mit einem einstudierten Lächeln daneben und Ben die Türe aufhaltend. Eigentlich war er wie festgefroren, doch Ben lief langsam auf den Eingang zu, sein Herz laut pochend. Was hätte er denn sonst tun können? Er hatte sie lange nicht mehr gesehen, wollte sie trösten. Er wollte sicherstellen, dass sie nicht komplett dem Wahnsinn verfallen war. Er betete, sie möge ihn erkennen, wieder etwas wohlauf sein. Nach diesen wenigen Schritten, die ihm wie tausende von Kilometern vorkamen, erreichte er den Eingang. Ben schloss seine Augen, wollte nicht sehen, was vor ihm lag. "Ben." Er sah nicht, wie sie den Kopf hob, ihn auf eine animalische Weise zur Seite drehte und ihn anstarrte. "Ben." Ihre Lieder öffneten sich flatternd. Auf einmal fühlte sich sein Gang wie fliegen an, die Meter wie Sekunden. "Ben." Er erreichte gerade die rote Linie, der einzige Farbtupfer in dieser trostlosen Welt. Er holte Luft, wollte sie begrüßen- "Ben.", flüsterte sie, "Ben. Ben. Ben. Ben. Ben, du elender Drecksack!" Sie kreischte immer höher, die Oktaven verschwommen in irrer Geschwindigkeit. "Wieso hast du versagt? Du hattest eine Aufgabe, du solltest nur helfen! Ich hab' mir in den Kopf geschossen, verdammt! Du hast mir Hoffnungen gemacht, die du nicht einmal erfüllen konntest!" Sie gackerte spöttisch, bog sich unter ihren Kichern und starrte den Boden an, den sie nun schon zwei Jahre lang anstarrte. "Weißt du was?", Ihr Kopf schwenkte hoch, ihre verrückten Augen drehten sich und zerrissen ihn förmlich," Ich hätte dich töten sollen. Erwürgen. Aufschlitzen. Brutal dein elendes Dasein beenden. Vielleicht hättest du mur auch einfach die Kugel geben sollen, du wärst für die nächsten Jahre sicher gewesen. Warum bist du nur so dumm, Ben?" Ben wollte ihr nicht mehr ins Gesicht schauen. Bei ihr war die Operation, dieses Vergessen, nicht gelungen. Auch sie schwieg nun, starrte ihn irre und hasserfüllt an. Er wusste einfach nicht, was er sagen sollte. Das einzige Geräusch, die Stille durchbrechende Geräusch, war das Kratzen eines Füllers auf billigem Papier. Ben drehte sich nicht um, betrachtete den Pfleger nicht mit einem fragendem Blick. Fragte nicht, was er da aufschreiben würde. Ben wollte nicht. Ben konnte nicht. Ben dachte nicht. Ben war blank.

Hätte man ihn gefragt, wie lange sie dort bewegungslos standen, er hätte es nicht beantworten können. Denn mit ihr gab es keine Zeit für ihn. Sie existierte schon lange ohne Zeit, hatte ihm der seinen beraubt. Mit ihrem Wahnsinn nahm sie ihm auch noch den Verstand, seine Gefühle, seine Lebensliebe. Geliebt hatte er das Leben nicht, aber gelebt hatte er gerne. Nun hatte sie ihn auch in den Strudel der Endlosigkeit geworfen. Es schien, als wäre das Leben aus diesem Raum verbannt worden. "...Könnten sie mir ein Glas Wasser holen?" "Da sie gefesselt ist... Ich vertrau' dir mal, du packst das." Innerlich zeriss Ben die Gelassenheit des Pflegers. Aber wenn sie nicht schrie, durfte er nicht schreien. Er richtete sich nach ihr, aus Angst und aus Schuld. Die Glastür fiel zu, die Eisentür fiel zu, das Schwarz um sie sank um weitere Nuancen, schien sich auszubreiten wie ein Feuer auf trockenem Papier. Ben brach die Stille erneut, zwang sich in ihren puren Wahnsinn zu blicken. "Es tut mir leid." Er hob zu seiner Erklärung an, als ein Donner den Saal um sie erfüllte. Panik überrannte seine Augen, bis er Verstand. Ihre Fesseln waren gelöst. "Du bist schuld!" Sie sprang ihn an wie ein Tier und zerkratzte sein Gesicht. Sie schlug ihn, ohrfeigte ihn und spuckte ihn an. "Du musst sterben! Du machtest mir Hoffnungen! Stirb!" Als sie ihn letzendlich würgte, wehrte er sich nicht. Er hatte sich von Anfang an nicht gewehrt. Seine letzten Worte waren eine weitere Entschuldigung, die letzten Minuten seines Lebens verbrachte Ben damit, zu weinen. Sie drückte immer weiter zu, nicht einen Funken Gnade walten lassend. Und nach genau 4 Stunden und 23 Minuten ließ sie von seinem toten Körper ab, sein starres Gesicht eine Fratze der Schuldgefühle. Sie saß in eine Ecke und weinte, einen wirren Singsang wiederholend.

"Es scheint nichts gebracht zu haben, den Jungen zu opfern. Ihr Zustand hat sich nicht verbessert. Ich fülle den Raum jetzt mit Schlafgas und kette sie wieder fest. Vieleicht taucht nochmal jemand auf." Er drückte den Knopf und verließ den Raum pfeifend, ein Wasserglas in der Hand haltend.

"Es tut mir leid Ben. Es tut mir leid Ben. Es tut mir Leid Ben. Ich bin schuld. Du konntest nichts dafür. Es tut mir leid Ben. Es tut mir leid Ben. Es tut mir Leid Ben. Ich bin schuld. Du konntest nichts dafür. Es tut mir leid Ben..."













Hallo mal wieder. Ich wollte nur sagen, dass das hier der letzte Teil war. Es hat mir Spaß gemacht, diese Geschichten zu schreiben, auch wenn sie ernst und vielleicht etwas sehr traurig sind. Mein Dank gilt hier vorallem BlueAtem, da sie mir für diesen letzten Teil Test gelesen hat. Dankeschön dafür und für das liebe Feedback, dass mich sehr aufgebaut hat :)

- Sarah

GnadentodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt