(8) Amelia

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Amelia

Immer wieder musste ich an den Kuss denken. Ich lag wach im Bett, drehte mich ständig hin und her und fand trotzdem keinen Schlaf. Das Date mit Wincent war echt schön. Ich hatte den Nachmittag total genossen. Doch der Moment, als seine Lippen meine berührten, kam so unerwartet, so plötzlich. Immer wieder berührten meine Finger meine Lippen und ich stellte mir nur eine Frage. War das wirklich passiert? Meinen ersten Kuss hatte ich mir anders vorgestellt. Ich wollte auf meinen ersten Kuss vorbereitet sein. Schlecht fand ich ihn aber nicht. Es war schon irgendwie seltsam, aber gut. Noch immer herrschte in mir ein Gefühlschaos. Ich muss morgen früh arbeiten. Wie genau sollte ich das schaffen, wenn ich jetzt kein Auge zu bekam? Nach dem Kuss bin ich einfach gegangen, ohne ein Wort zu sagen. Hätte ich etwas sagen sollen? Wincent hatte auch nichts gesagt. Was hatte dieser Kuss zu bedeuten? Treffen wir uns nochmal oder war es unser erstes und letztes Treffen? Aber wenn es das erste und letzte gewesen wäre, dann hätte er mich nicht geküsst, oder? Amy! Hör auf zu denken! Ihm eine Nachricht zu schreiben wäre sicher auch blöd. Wie verhält man sich nach so einem Kuss? Redet man darüber oder lässt man es bleiben? Ich sollte wirklich aufhören zu denken.

Zwei Tage später stand ich vor dem Studio, in dem ich letzten Freitag schon war, um Amelie zu helfen. Ich betrat gerade den Flur und merkte schnell, dass ich an dieser Stelle des Studios noch gar nicht war. Seltsam. Langsam schloss ich die Tür und schaute mich hier um. In mir breitete sich ein merkwürdiges Gefühl aus, als ich die Dinge an der Wand sah. Hier hingen Platten. Wincent Weiss stand groß drauf. Wincent Weiss? Das kam mir bekannt vor. Das war doch der arrogante Sänger, mit dem Mara mich ärgerte. Mich verwirrte das. Dieser Mann, der darauf zu sehen war, das war doch Wincent, oder? Er sah dem Wincent, den ich kennengelernt hatte, total ähnlich. Ich täuschte mich bestimmt nur. Ein paar Schritte ging ich weiter und schaute mir die Platten etwas genauer an. Auf jedem stand Wincent Weiss drauf und dazu noch ein Bild. Sicher nur Zufall, dass sie sich ähnlich sehen.

Plötzlich lief jemand in mich hinein und holte mich somit zurück in die Realität. „Sorry, mein Fehler”, murmelte er. Ich schaute hoch und sah direkt in die braunen Augen von Wincent. „Amy! Freut mich, dich zu sehen.” Ich schaute kurz nach links zu den Platten und dann wieder zu Wincent. Nein, oder? Die Ähnlichkeit ist sehr groß. Aber das ist er nicht, sicher nicht. Das ist unmöglich Wincent Weiss. Ich brachte keinen einzigen Ton heraus und stand verwirrt vor Wincent. Was sollte ich sagen? Freut mich ebenfalls dich zu sehen? Das fühlt sich auch nicht richtig an.  Einfach weitergehen, ohne ein Wort zu sagen, wäre ebenfalls falsch. Hilfe, wie entkomme ich so einer Situation?
„Ist alles in Ordnung?”
„Ja klar, alles gut”, meinte ich schnell. „Ist meine Frisur so scheiße?” Ich schüttelte den Kopf. Mir ist nicht entgangen, dass er sich die Haare geschnitten hat. Es sah gut aus. Ich war mir aber unsicher, mit dem was ich sagen sollte, deswegen sagte ich lieber nichts. Es herrschte eine unangenehme Stille zwischen uns. Keiner von uns wusste, was er sagen sollte und einfach weitergehen ist auch nicht die beste Lösung. „Amy, da bist du ja.” Ich war so froh, dass Amelie gerade zu mir kam und mich kurz zur Begrüßung umarmte.
„Wincent? Was machst du noch hier? Du hast doch noch Bandproben.”
„Ja, ich bin auch schon weg. Euch noch viel Spaß!” Amelie wünschte ihm ebenfalls viel Spaß. Wincent verließ das Studio und ich folgte Amelie in den Konferenzraum.

„Irgendwas ist doch mit dir, oder?” Ich schüttelte schnell den Kopf. „Doch, irgendwas ist los. Du bist so anders.”
„Ich bin normal. Alles in Ordnung. Bin nur etwas müde”, log ich. Meine Gedanken wollte ich mit Amelie noch nicht teilen. Von dem Kuss wollte ich erst recht nichts erzählen. Es war so, als wäre mein Kopf kurz davor zu explodieren. Meine Gedanken kreisten in meinem Kopf, wie ein Karussell, welches keinen Halt machen wollte. Wincent und ich hatten seit dem Kuss nichts mehr von einander gehört. Ich hatte seine Nummer, aber ich traute mich nicht, ihn anzuschreiben. Er könnte mir genauso gut schreiben, was er aber nicht tat. Ich wusste nicht, wo ich stand und ob der Kuss etwas zu bedeuten hatte. Ich hoffte, dass er etwas zu bedeuten hatte, denn ich wollte ihn näher kennenlernen. Ich mag ihn. Es war dieses Ungewisse, was mich gerade in den Wahnsinn trieb. „Amy? Du bist echt nicht bei der Sache.“ Das war ich wirklich nicht. Ich bekam nur mit, dass Amelie etwas sagte, doch wusste ich nicht, was. Sie klatschte einmal laut in die Hände, was mich zusammen zucken ließ. „Ich bin bei der Sache", sagte ich schnell. „Du weißt nicht mal, was ich hier machen möchte. Du bist mit deinen Gedanken woanders und nicht hier. Und du möchtest mir echt nicht sagen, was los ist?“
„Ich…“
„Amy, ich kenne dich. Dein Verhalten ist nicht normal.“
„Ja, du hast recht. Aber ich möchte echt nicht drüber reden. Ich reiße mich jetzt wirklich zusammen und versuche dir zu helfen.“ Es fiel mir schwer, doch ich bekam das hin. Immer mal wieder schweiften meine Gedanken zu den Platten, Wincent und dem Kuss, die ich aber versuchte zu verdrängen. Wir kamen zwar nur langsam voran, doch schafften wir es, bis zum Abend, das zu beenden, was Amelie für heute geplant hatte. „Das nächste Mal aber bitte mit klarem Kopf. Was auch immer dich beschäftigt, ich hoffe es wird bald besser.“
„Bestimmt. Hab nur einen schlechten Tag“, meinte ich. Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, werde ich mit ihr sicher darüber reden können. Doch nun musste ich los zu Louisa, um auf Livia aufzupassen.

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