𝘛𝘌𝘕

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𝗠𝗨𝗖𝗞𝗦𝗠𝗔̈𝗨𝗦𝗖𝗛𝗘𝗡𝗦𝗧𝗜𝗟𝗟𝗘 𝗦𝗘𝗞𝗨𝗡𝗗𝗘𝗡
❛-𝘰𝘤𝘦𝘢𝘯𝘱𝘳𝘪𝘯𝘤𝘦𝘴𝘴❜

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❛Es ist nicht einfach, einen einzigen Moment auszuwählen, den ich für immer in einem Marmeladenglas festhalten kann.
Schließlich gibt es Hunderttausende von kleinen Augenblicken, die alle wunderschön sind. Am liebsten würde ich sie alle einfangen, aber da ich nur einen nehmen kann, entscheide ich mich für einen besonders magischen Moment.

Ich stehe in einem Raum voller Menschen, die mich ansehen und mir zuhören, wie ich Klarinette spiele. Ich spiele ein Stück, das ich für einen Wettbewerb einstudiert habe, bei dem ich leider krank geworden bin.
Obwohl ich nicht gut hören konnte, starke Halsschmerzen hatte und meine Nase verstopft war, bin ich damals trotzdem aufgetreten, denn ich wollte nicht monatelang umsonst geübt haben. Wegen meiner schweren Erkältung konnte ich nicht so gut spielen, wie ich es eigentlich gekonnt hätte. Und deshalb stehe ich jetzt hier und spiele eines der vier Stücke, um eine perfekte Version abliefern zu können.

Ich lasse mich von der Klavierbegleitung tragen und schwebe fast durch die Noten, lausche der unausgesprochenen Geschichte, die ich in ihnen interpretiere.
Der Anfang ist sehr langsam, ruhig, ein wenig mit Sechzehnteln ausgeschmückt.
Langsam baut sich ein Crescendo in den Tönen auf, die Musik wird immer spannender... aber plötzlich verstummt sie. Zwei Schläge lang spielen weder der Pianist noch ich einen einzigen Ton. Die Spannung im Raum ist fast greifbar.
Niemand wagt zu atmen oder sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Dann geht es weiter, mit einem langen, hohen Ton, bevor er in Sechzehntelnoten übergeht. Ich höre, wie die Melodie ihren träumerischen Bogen zieht, erst nach oben, dann nach unten. Es folgt eine langsame Passage im Forte, gegen Ende mache ich ein plötzliches Decrescendo und verlangsame das Tempo weiter.
Schlagartig geht es wieder schnell weiter, zwei Takte nur mit dem Klavier, bevor ich mit Achteltriolen einsetze. Am Ende der Phrase steigert sich das Tempo wieder, nur um im nächsten Teil abrupt in eine langsame Geschwindigkeit zurückzufallen.
Ich baue Spannung auf und wieder ab, phrasiere die Teile so, dass jeder im Raum die Magie der Musik spürt. Die Musik wechselt in einen 6/8-Takt, zuerst wird auf dem Klavier eine Zerlegung gespielt, wobei der letzte Ton gehalten wird. Ich steige ein, wiederhole die gleiche Zerlegung und setze ebenfalls eine Fermate auf die letzte Note. Der Takt wechselt wieder in den 4/4 Takt und es folgt eine ähnliche Stelle wie am Anfang. Nach und nach nimmt sowohl die Lautstärke als auch das Tempo ab, bis wir ein Pianissimo erreichen. Ein starkes Ritardando endet mit drei langen Noten, meinen letzten Tönen.

Ich lasse meine Klarinette angesetzt, der Pianist spielt auch seine letzten beiden Takte zu Ende. Aber auch nach seinen allerletzten Tönen halte ich die Spannung, lasse das Lied ausklingen. Niemand wagt zu klatschen. Es ist mucksmäuschenstill.
Der tosende Applaus setzt erst ein, als ich meine Klarinette absetze und das Lied beende.

Mein Marmeladenglasmoment ist aber weder der Applaus noch die Komplimente des Publikums oder die meines Lehrers.
Nein, mein Marmeladenglasmoment sind die drei Sekunden, in denen die Musik noch im Raum nachklingt, als würde jeder sie noch spüren, auch wenn man sie nicht mehr hört. Diese drei
mucksmäuschenstillen Sekunden möchte ich für immer in einem Marmeladenglas festhalten.❜

𝙈𝘼𝙍𝙈𝙀𝙇𝘼𝘿𝙀𝙉𝙂𝙇𝘼𝙎𝙈𝙊𝙈𝙀𝙉𝙏𝙀 - 200 followerspecialWo Geschichten leben. Entdecke jetzt