Morgendämmerung

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Wie fließendes Sonnenlicht ergossen sich die langen, goldenen Haare der jungen Frau hinter ihr und tanzten rhythmisch im Wind. Tief atmete sie die kühle, blumige Morgenluft ein und erfreute sich an der friedlichen Stille, die über ihrem Zuhause lag. Im Morgengrauen, noch bevor die Sonne ihre volle Pracht entfaltete, erstrahlte der Himmel in einem zauberhaften Spektakel aus Violett, Rot und Orange. Ein malerischer Schleier aus Nebel umhüllte das idyllische Dorf und verlieh ihm einen geheimnisvollen Zauber. In dieser verzauberten Atmosphäre glitt sie leise, von einer sanften Morgenbrise begleitet, aus ihrer Hütte und schritt auf einem schmalen Pfad zum Stall, wo ihre Stute Rana ruhte. Die Luft war erfüllt von einem betörenden Duft nach frischem Gras und wilden Blumen, während die ersten Strahlen der aufsteigenden Sonne zarte Lichtflecken durch das Blätterdach des Waldes warfen, an dessen Rand ihr Dorf lag. Das Zwitschern der Vögel begann allmählich zu einem lebhaften Konzert anzuschwellen und füllte die Morgenluft mit harmonischen Melodien. Es war ein magischer Moment, in dem die Natur zum Leben erwachte und die Welt in vollkommener Pracht erstrahlte. Die ersten Stunden des Morgens waren eine zauberhafte Sinfonie aus Farben, Klängen und Düften, die die Tochter des Stammesfürsten tief in ihrem Herzen berührte. Und während sie die kühle Morgenluft einsog, spürte sie die Verbundenheit zum Leben, die sie mit einer unbeschreiblichen Freude erfüllte.
Der Stall war ein rustikales Gebäude am Rande des Dorfes. Es duftete nach Heu und warmem Tierfell, als Kiana die Tür mit einem lauten Knarzen öffnete. Im schwachen Schein einer Öllampe entdeckte sie ihre Stute Rana, die friedlich in ihrer Box lag und das Heu knabberte. So leise wie möglich betrat die junge Frau die Box und schloss die Tür hinter sich. Rana hob neugierig die Augen und wieherte vergnügt, als sie ihre Besitzerin erkannte. Ihre dunklen Augen funkelten vor Freude, als Kiana auf sie zutrat.
«Hallo meine Süße», flüsterte Kiana, kniete sich zu ihr hin und streichelte zärtlich über Ranas weichen Hals. «Ich konnte nicht schlafen und brauchte etwas Gesellschaft.» Als hätte Rana die Worte ihrer Herrin verstanden, drückte sie liebevoll ihren Kopf gegen Kianas Schulter. Sofort umhüllte ihre Wärme sie wie eine schützende Umarmung. Dankbar um ihre treue Begleiterin, ließ Kiana sich auf dem mit Stroh bedeckten Boden nieder und kuschelte sich an ihre Stute. Die vertraute Berührung und der gleichmäßige Atem des Pferdes halfen ihr für einen kurzen Moment, sich von ihren Ängsten und Sorgen über den bevorstehenden Tag zu befreien. Obwohl es nicht ihr Hochzeitstag war, hatte dieser Tag dennoch eine immense Bedeutung für ihre Zukunft. Die junge Frau empfand es so, als ob die Göttin Arianrhod mit dem Rad des Schicksals zarte Fäden um sie gesponnen hätte und sie auf eine Reise schickte, die ihr Leben für immer verändern sollte.
Heute würde sie nach Bibracte, dem Hauptsitz der Haeduer, aufbrechen, um ihr Verlöbnis mit dem Sohn des Stammesfürsten zu feiern. Zwar war sie Haerviu seit ihrer Geburt versprochen, doch am heutigen Tag würden ihre Familien die Verlobung offiziell besiegeln. Die Haeduer planten ein Fest zu ihren Ehren auszurichten, da Kiana als zukünftige Fürstin ihres Stammes auserkoren war. Dankbarkeit erfüllte sie für ihren Vater, der einen Mann für sie ausgesucht hatte, der nur drei Tagesritte entfernt von ihrem Stamm lebte. So konnte sie trotz der bevorstehenden Vermählung ihre Familie weiterhin sehen. Auch wenn sie nicht wusste, wie ihre kommende Beziehung aussehen sollte. Eines stand fest: Ihr Bruder würde eines Tages ihrem Vater als Stammesfürst nachfolgen, während sie selbst die Herrin eines anderen Volkes werden sollte. Die Ungewissheit ließ sie grübeln. Was würde geschehen, wenn der Friede zwischen den Segusiavis und den Haeduern bräche? Welchen Verbindungen würde sie sich zugehörig fühlen - ihrer alten oder neuen Familie? Und wie würde sie es verkraften, wenn ihr Bruder durch die Hand eines Haeduers sterben sollte? Fragen und Zweifel tanzten in ihrem Geist, als sie sich auf die kommenden Herausforderungen vorbereitete. Kiana schüttelte den Kopf und versuchte, die unschönen Gedanken zu verdrängen, da sie ohnehin keine andere Wahl hatte. Denn als Tochter des Stammesfürsten war es ihre Pflicht, Haerviu zu heiraten, und ihre zukünftige Gefolgschaft galt daher allein ihrem Ehemann. Rana, ihre treue Gefährtin, würde das einzige Lebewesen sein, das sie in ihre neue Heimat begleiten würde. Alle anderen - ihre Familie, ihre Freunde - müsste sie hier im Dorf der Segusiavi zurücklassen. Es war eine schwere Last, die sie zu tragen hatte, aber sie wusste, dass es der Weg war, den sie gehen musste, um ihren Pflichten und Verantwortlichkeiten gerecht zu werden.
Kiana war hin- und hergerissen zwischen ihren Verpflichtungen und den sehnlichsten Wünschen, die tief in ihrem Innersten brannten. Die Vorstellung einer arrangierten Ehe ohne Liebe ließ ihr Herz schwer werden. Wie sehr sehnte sie sich danach, dieselbe Liebe zu erfahren, die ihre Eltern füreinander empfanden. Doch dann kamen ihr die Worte ihrer Mutter in den Sinn, die einst gestanden hatte, dass sie zu Beginn ihrer Ehe auch nicht in ihren Vater verliebt gewesen war. Es war ein Geständnis, das Kiana damals überrascht hatte, denn schon immer schien ihr die Liebe ihrer Eltern unerschütterlich und tiefgründig zu sein. Die Erinnerung an diese Worte brachte einen Hauch von Trost in ihre Gedanken, denn sie zeigten ihr, dass Gefühle Zeit brauchten, um zu wachsen und zu reifen. Und wer wusste, vielleicht würde sie eines Tages das gleiche Glück wie ihre Eltern finden. Die Vorstellung einer Liebe, die wie eine zarte Blume im Laufe der Jahre erblühte und ihre Wurzeln fest in ihr Herz verankerte, gefiel ihr. Jeder kostbare Moment, den ihre Eltern miteinander verbracht hatten, schien die Verbindung zwischen ihnen gestärkt und ihre Liebe zu einem mächtigen Band gemacht zu haben, das sie durch die Höhen und Tiefen des Lebens trug. Vielleicht war es möglich, dass auch sie eine solche Liebe erleben und wachsen lassen konnte - eine Liebe, die stark genug war, um sie durch alle Unwägbarkeiten des Schicksals zu begleiten. Wenn Kiana ihre Eltern jetzt sah, war es schwer vorstellbar, dass es jemals Zweifel an ihrer tiefen Liebe gegeben hatten. Die Art, wie sie sich ansahen, die leisen Gesten der Zuneigung, die sie austauschten, und die Unterstützung, die sie einander gaben, waren Beweise für die außergewöhnliche Verbundenheit, die sie füreinander empfanden. Für diese Liebe hatte ihr Vater sogar seine Mätressen im Dorf aufgegeben - eine Tat, die Kiana ebenfalls von Haerviu verlangen würde, wenn er sie zur Frau nahm. Sie fühlte sich unbehaglich beim Gedanken daran, ihren Ehemann mit einer anderen Frau teilen zu müssen, und daher würde sie es ihrem zukünftigen Gatten auch nicht gestatten.
Schließlich wurde ihr Vater für seine Entscheidung belohnt. Nachdem er seine Mätressen aufgegeben hatte, war es ihrer Mutter endlich gelungen, nach zwei Jahren erfolgloser Versuche ein Kind von ihm zu empfangen. Erst vier Jahre später hatte ihre Mutter Kiana zur Welt gebracht. Drystan und sie wurden von ihren Eltern als Geschenke der Götter betrachtet, und diese Tatsache hoben ihre Eltern auch heute noch hervor. Kiana wusste, dass sie die einzigen Kinder waren, die ihre Mutter jemals von ihrem Vater empfangen hatte. Und wenn ihre Mutter dies betonte, spürte Kiana, dass es nicht daran lag, dass ihre Eltern nicht das Lager teilten.
Die Liebesgeschichte ihrer Eltern spendete Kiana Hoffnung und Mut. Vielleicht könnte sie das Gleiche erleben - eine Liebe, die sich mit der Zeit entwickelte und die allen Stürmen des Lebens trotzte. Möglicherweise würde aus der Freundschaft, die sie mit Haerviu verband, irgendwann eine so tiefe Verbundenheit aus Vertrauen und Respekt entstehen, die man Liebe nennen konnte. Und dennoch konnte sie ihre Unsicherheit nicht abschütteln. Was verursachte dieses nagende Gefühl in ihr, wenn sie an ihre Zukunft mit Haerviu bei den Haeduern dachte?
Gewiss, die Stellung als Fürstin der Haeduer war zweifellos das Beste, was Kiana passieren konnte. Die Haeduer waren einer der bedeutendsten Stämme in ganz Gallien, ihre Macht und Ausdehnung war beeindruckend. Die enge Allianz mit den Römern verlieh ihnen zusätzlich einen immensen Reichtum und ihre Hauptstadt Bibracte glich bereits einer römischen Stadt, wodurch Kianas Dorf fast primitiv erschien. Es sollte eigentlich ein Leben voller Luxus und Annehmlichkeiten sein, das vor ihr lag. Vielleicht waren es tatsächlich nur die unbekannten Herausforderungen und die Unsicherheit, ob sie dort wirklich glücklich sein würde. Sie war sich bewusst, dass ihre Gefühle für Haerviu nicht von Liebe erfüllt waren, und sie fürchtete, dass eine Ehe ohne Liebe eine leere und unbefriedigende Existenz bedeuten könnte.
«Kiana, wo steckst du?», rief die Stimme ihres Vaters und durchbrach die morgendliche Stille. Erschrocken fuhr Kiana auf, wodurch sie mit dem Kopf ihrer Stute zusammenstieß, was Rana ein empörtes Schnauben entlockte.
«Ich bin hier, Vater», antwortete Kiana. Ein paar Sekunden später betrat Melvin auch schon den Stall und antwortete: «Ich hätte wissen müssen, dass du hier bist, Kleines.»
In einer ruhigen und fließenden Bewegung stand Kiana auf und versuchte, so gut sie konnte, ihre inneren Konflikte nicht nach außen zu tragen. Rana schnaubte erneut empört, als Kiana die Box verließ und zu ihrem Vater trat. Melvin, ein stolzer und aufrechter Mann, strahlte mit jeder Faser seines Körpers die Autorität eines Stammesfürsten aus. Doch hier und jetzt war er einfach nur ihr Vater. Der Mann, zu dem Kiana am meisten aufsah. Den Mann, den sie über alles liebte.
«Was gibt es, Vater?», fragte Kiana und versuchte, unbekümmert zu klingen. Ihr Vater betrachtete sie prüfend und sie spürte, wie sein durchdringender Blick tief in ihr Innerstes vorstieß. Natürlich ahnte er, dass etwas nicht stimmte. Er kannte sie immerhin seit achtzehn Jahren. Doch Melvin erwiderte nur: «Deine Mutter und deine Tante wollen dich sehen, meine Kleine.»
Ehe sie sich versah, hatte er auch schon einen Arm um ihre Taille gelegt, um sie sanft zur Hütte zurückzubegleiten und vor der kühlen Morgenluft zu schützen.
«Wieso wollen sie mich bereits so früh am Morgen sehen?», fragte Kiana nervös und klammerte sich an die Hand ihres Vaters, ehe sie sich enger an ihn schmiegte. Sofort hüllte sie sein vertrauter Duft ein, der nach Holzrauch und Leder roch. Vielleicht fühlte sie sich einfach noch nicht dazu bereit, ihre Familie zu verlassen?
«Oh, ich vermute irgendeine geheime Frauensache, wo wir Männer uns besser nicht einmischen sollten», antwortete ihr Vater scherzhaft und zwickte sie spielerisch in ihre Taille, was ihr ein lautes Lachen entlockte.
«Ich dachte, du bist der allmächtige Fürst unseres Stammes?», stichelte sie weiter und ihr Vater lachte herzhaft.
«Und als solcher weiß ich, wann ich mich besser nicht einmische, um meine Position nicht zu gefährden. Das betrifft vor allem das, was deine Mutter in Bezug auf dich entscheidet», erklärte er mit einem vielsagenden Blick. Solange sich Kiana erinnern konnte, hatten ihre Eltern immer alles gemeinsam entschieden. Egal, ob es ihr Volk oder ihre Kinder betraf. Nur, wenn es darum ging, ihre Kinder auf ihre jeweilige Zukunft vorzubereiten, hatten ihre Eltern sie getrennt unterrichtet. Melvin brachte Drystan sämtliche Dinge bei, die er für seine zukünftige Rolle als Stammesfürsten wissen musste, während Marvina Kiana in den Pflichten einer Ehefrau eines Stammesfürsten unterwies. Ihr Vater hatte sie bereits wenige Tage nach ihrer Geburt mit Haerviu verlobt, da das Bündnis mit den Haeduern auch ihrem Stamm zu mehr Wohlstand gereichen sollte. Seit sie denken konnte, wusste Kiana, dass es ihre Pflicht war, die Fürstin der Haeduer und Haerviu eine gute Ehefrau zu werden. Doch was würde mit ihr passieren, wenn sie ihren Verpflichtungen nicht nachkommen konnte? Wenn sie darin scheiterte, eine gute Fürstin, Ehefrau und Mutter zu werden?
Melvin spürte die Nervosität seiner Tochter und führte sie in den Schatten der Hütte. Ohne ein Wort zu sagen, zog er sie sanft in seine starken Arme und drückte sie fest an seine Brust. Kiana lehnte sich in diese Umarmung, schloss die Augen und genoss das vertraute Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Sein gleichmäßiger Herzschlag beruhigte sie langsam und es war, als ob er all ihre Sorgen und Ängste mit einer einzigen Umarmung nehmen konnte.
«Du brauchst dich nicht zu fürchten, meine Kleine», flüsterte Marvin sanft in ihr Ohr. «Ich würde nie zulassen, dass dich jemand bekommt, der deiner nicht würdig ist.»
Ein sanftes Lächeln legte sich auf Kianas Lippen, als sie ihr Gesicht noch fester an seine Brust drückte.
«Ich bin nur nervös», gestand sie leise. «Das geht sicher vorbei, wenn ich erstmal dort bin.»
Melvin streichelte ihr solange sanft über den Rücken, bis ihre Anspannung nachließ, ehe er weitersprach. Diesmal erzählte er Kiana etwas, was er ihr noch nie zuvor erzählt hatte: «Als ich deine Mutter das erste Mal traf, war sie genauso alt wie du jetzt. In ihren Augen war die gleiche Angst wie in deinen heute. Ich weiß noch wie ich meinen Vater einen Blick zuwarf und ihn stumm fragte, wie er mich nur dazu zwingen konnte, dieses scheue und verängstigte Reh zu heiraten. Erzähl deiner Mutter nicht, dass ich dir das Verraten habe, aber sie hat bitterlich geweint, als wir sie aus ihrem Dorf mitnahmen. Ich erinnere mich, wie sie ihren Vater auf Knien angefleht hatte, sie nicht wegzuschicken. Sie wollte nicht mit mir gehen, auch wenn die Hochzeit zwischen uns beiden schon längst beschlossene Sache war. Ihr Vater hat sie einfach gepackt und sie mir vor die Füße geworfen, während er uns alle daran erinnert hatte, dass an dem Vertrag nicht mehr zu rütteln war.»
Melvin ließ Kiana los und hob sanft ihren Kopf an, um ihr in die Augen zu sehen. Dann fuhr er fort: «Bis heute frage ich mich, wie er das über sich bringen konnte.»
Kiana erwiderte seinen Blick und sie konnte die unausgesprochenen Worte in seinen Augen lesen, die sie voller Zärtlichkeit ansahen. Niemals würde Melvin sie so verraten. In diesem Moment beruhigte sich etwas in ihrem Herzen. Egal, was heute Abend passieren würde, ihr Vater würde sie niemals verstoßen. Mit einem Mal verstand sie, warum er sie, seit ihrer Geburt mit Haerviu zusammen gebracht hatte. Er hatte ihr die Möglichkeit gegeben, ihren zukünftigen Ehemann schon vor der Hochzeit kennenzulernen, damit sie nicht wie ihre Mutter voller Angst vor der Zukunft ihrem Gemahl gegenübertreten musste.
«Dein Großvater war ein grausamer Mann und ein schlechter Anführer. Ich habe es deiner Mutter gegenüber zwar nie laut ausgesprochen, aber den Untergang seines Volkes hat er selbst zu verantworten.» Kiana schluckte. Sie wusste nicht viel über die Familie ihrer Mutter. Abgesehen von ihrer Tante Fabala kannte sie niemanden. Sie wusste nur, dass ihr Großvater es nicht geschafft hatte, seine Töchter Fabala und Ailín gegen die Römer zu verteidigen und sie als Lustsklavinnen in das Zelt eines römischen Generals verschleppt wurden. Vielleicht hatte ihr Großvater auch nicht das Rückgrat besessen, für seine beiden jüngsten Töchter zu kämpfen. Das Einzige, was Kiana noch über ihn erfahren hatte, war, dass er wohl mit seinen Kindern in Rom zur Unterhaltung der Massen hingerichtet wurde.
Langsam löste sich ihr Vater aus der Umarmung und blickte ihr liebevoll in die Augen. «Alles wird gut, meine Tochter. Du hast das Zeug dazu, eine wunderbare Fürstin zu werden. Vertraue dir selbst und deinem Herzen, und du wirst den richtigen Weg finden.»
Kiana nickte und fühlte, wie neue Entschlossenheit in ihr aufkeimte. Sie war bereit, die Herausforderungen, die vor ihr lagen mit Zuversicht anzunehmen und zu meistern.
«Was hast du mit Mutter gemacht, als man sie dir vor die Füße warf?», fragte sie vorsichtig nach.
«Sie hat mich angeschaut wie ein Kaninchen die Schlange», erklärte ihr Vater und ein Schatten huschte über sein Gesicht. «Als ich ihr auf die Beine helfen wollte, wich sie keuchend vor mir zurück und klammerte sich an den Rock ihrer Mutter. Ich habe sie nie gefragt, was sie in dem Moment von mir befürchtet hatte, weil es mir spätestens in unserer Hochzeitsnacht klar geworden ist. Doch als sie mir nach zwei Jahren in unserer Ehe anbot, sie zurückzuschicken, weil sie kein Kind empfangen konnte, wusste ich, dass ich sie niemals in dieses Zuhause zurückschicken konnte. Auch wenn ich mich zu dem Zeitpunkt nicht bereits unsterblich in sie verliebt hätte, hätte ich es niemals über mich gebracht, sie zu diesem Monster zurückzuschicken. Ich bin mir sicher, sie hätte diese Schande nicht überlebt.»
Kiana schluckte und dachte an ihre frühsten Kindheitserinnerungen zurück. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Mutter einst solche Angst vor ihrem Vater gehabt hatte. Seit sie sich erinnern konnte, waren die Umarmungen ihres Vaters für sie stets ein Mantel aus Sicherheit und Geborgenheit gewesen. Oft war es nur noch das flammend rote Haar ihrer Mutter, was sie sehen konnte, wenn sie in seinen Armen versank. Melvin hatte nie die Hand gegen eines seiner Kinder erhoben und Marvina war definitiv keine Frau, die vor lauter Angst in einer Ecke kauerte. Im Gegenteil. Oft genug hatte Kiana ihre Eltern streiten gehört. Denn wenn sie einmal stritten, dann so laut, dass es das ganze Dorf hören konnte. Doch wenn Melvin den Streit beenden wollte, dann schlug er sie nicht, sondern zog sie in eine Arme und küsste sie so lange, bis ihrer Mutter keine Argumente mehr einfielen und sie sich geschlagen geben musste. Meistens einigten sie sich auf ein Unentschieden, so dass jeder sein Gesicht wahren und ohne gekränkten Stolz aus dem Streit herausgehen konnte. Bei Kiana wandte er stets eine andere Taktik an. Wenn sie sich stritten und sie ihn wütend anfunkelte, dann bestand Melvins Angriff in einer Kitzelattacke. Irgendwann lag Kiana lachend und keuchend auf dem Boden und versuchte nur noch, den Händen ihres Vaters auszuweichen. Dabei hatte sich, ohne dass sie es bemerkt hatte, ihr Zorn in Luft aufgelöst. Lediglich bei Drystan war er strenger. Doch auch ihn hatte er noch nie geschlagen. Meistens nahm er ihn mit auf den Übungsplatz, damit sie ihre Wut bei einem Kampf mit den Holzschwertern freien Lauf lassen konnten.
Ernst sah Melvin seine Tochter an und in seinen Augen lag ein Glanz, den sie nur selten sah.
«Ich danke den Göttern heute noch dafür, dass sie mir dich und deinen Bruder geschenkt haben.» Ehe Kiana darüber nachdenken konnte, hatte ihr Vater sie erneut in seine Arme gezogen und drückte sie fest an seine Brust.
«Du wirst hier immer ein Zuhause haben, egal was passiert», flüsterte er ihr zu. Gerührt von den Worten ihres Vaters ließ Kiana ihn wieder los. Auch sie wusste, wie viel Glück sie hatte, dass sie in diese Familie hineingeboren worden war. Sie war wirklich ein Kind, das von den Göttern geküsst wurde.
Kiana war sich durchaus bewusst, dass sie ein privilegiertes Leben führte. Sowohl äußerlich als auch innerlich wurde sie als schön und liebenswert bezeichnet, was ihr den Respekt ihres Volkes einbrachte. Doch sie wusste, dass ihre Beliebtheit nicht nur auf ihre Stellung als Tochter des Fürsten zurückzuführen war. Ihr Liebreiz und ihre Hilfsbereitschaft machten sie zu einer geschätzten Persönlichkeit in ihrem Stamm und sie war dankbar, dass ihre Eltern sie nicht nur als politisches Werkzeug sahen, sondern als geliebte Tochter. Die Verbindung mit den Haeduern mochte politisch motiviert sein, doch Kiana wusste, dass ihr Vater sie nicht einfach als Tauschware betrachtete. Die Beziehung zu den Römern hatte ihrem Land nach den verheerenden Kriegen neue Chancen eröffnet. Das Land blühte auf, auch wenn es unter der Herrschaft der Römer stand. Die Haeduer pflegten enge freundschaftliche und wirtschaftliche Beziehungen zu den Römern, was durch ihre Ehe zu einem Vorteil für die Segusiavi werden konnte. Vor ein paar Tagen hatte Kiana erfahren, dass der neue römische Statthalter in Lugdunum angekommen war, doch bislang hatten die Römer ihren Stamm weitestgehend in Ruhe gelassen. Nur sehr selten verirrte sich ein ranghoher Beamter zu ihnen.
Die Segusiavi verstanden es, mit Geld umzugehen und Handel zu betreiben. Sie waren begabte Keramiker und Goldschmiede und nutzten ihre günstige Lage an den Flüssen, um ihre Kunstwerke weit innerhalb der bekannten Welt zu exportieren. Ihr Vater hatte sie in die Kunst des Handelns eingewiesen, während ihre Mutter sie in die Finanzen einführte, damit sie die Einnahmen und Ausgaben des Stammes im Auge behalten konnte.
Als Tochter des Stammesfürsten genoss Kiana zudem das Privileg, die kostbarsten Kleider und Schmuckstücke tragen zu dürfen, welche die Händler in ihr Dorf brachten. Ihr Vater liebte es, dass Strahlen in ihren Augen zu sehen, wenn er ihr ein neues Schmuckstück schenkte. Obwohl sie sich selbst nicht als eitel bezeichnete, gefiel es ihr, sich schön zu machen und die bewundernden Blicke der Dorfbewohner zu spüren und ja, sie genoss auch die neidischen Gesichter der anderen Mädchen, weil sie alles hatte, was man sich nur wünschen konnte.
Doch hinter all dem Glanz und den Vorzügen ihres Lebens verbarg sich eine Sache, die Kiana oft bedrückte - sie hatte kaum wirkliche Freundinnen. Mit einigen Mädchen in ihrem Alter war sie irgendwie befreundet, aber da war immer diese gewisse Distanz, die sie von den anderen trennte. Vielleicht lag es daran, dass sie die Tochter des Stammesfürsten war und eine gewisse Erwartungshaltung auf ihr lastete. Vielleicht fühlten sich manche Mädchen eingeschüchtert oder waren eifersüchtig auf ihre gesellschaftliche Position, ihr Aussehen, ihren Schmuck, ihre Kleider oder ihre Beliebtheit.
Inmitten dieser Distanz und Unsicherheit gab es eine Ausnahme: Alenya.  Alenya war anders. Sie sah Kiana nicht nur als Tochter des Stammesfürsten, sondern als eine gleichwertige Freundin, die sie schätzte und respektierte, ohne sich von äußeren Faktoren beeinflussen zu lassen. In Alenyas Gegenwart konnte Kiana sie selbst sein, ohne Angst haben zu müssen, dass ihre Stellung eine Rolle spielte oder Alyena sie benutzte. Sie teilten alles miteinander, lachten zusammen, weinten zusammen und unterstützten sich in allen Lebenslagen. Die Freundschaft mit Alenya war ihr größter Schatz, der ihr das Gefühl gab, nicht allein in dieser Welt zu sein.
Zudem war Alenya nicht nur ihre beste Freundin, sondern auch die Frau, die sie sich an der Seite ihres Bruders vorstellte, wenn er eines Tages der Fürst ihres Stammes werden sollte. Obwohl Alenya aus bescheideneren Verhältnissen stammte und nicht dem Adel ihres Volkes angehörte, störte dies Kiana nicht im Geringsten. Deshalb hatte es auch für Drystan keine Bedeutung zu haben. Alenyas Familie war zwar nicht wirklich reich, aber auch nicht arm. Alenya selbst war eine wunderschöne junge Frau, die zudem eine ausgezeichnete Bildung genossen hatte. In ihrem Stamm war es üblich, dass die Kinder ab dem sechsten oder siebten Lebensjahr von den Druiden unterrichtet wurden. Doch Kiana und Drystan erhielten zusätzlich zu den Lehren ihrer Eltern eine Zusatzausbildung von den Druiden und weil Kiana es nicht ertragen hatte, dass Alenya davon ausgeschlossen blieb, hatte sie sich dem Unterricht so lange verweigert, bis ihre Freundin an dem Wissen teilhaben durfte. Natürlich hatten die Druiden dem Willen eines Kindes nicht nachgegeben und weil Kiana, schon seit sie ein kleines Mädchen war, eine unterbewusste Vorstellung davon gehabt hatte, dass Alenya eines Tages ihre Mutter ersetzen könnte, hatte sie ihrer Freundin alles beigebracht, was sie selbst von den Druiden gelernt hatte. Ihre Mutter hatte nichts dagegen gehabt, im Gegenteil, sie fand es sogar gut, dass Kiana ihre Kenntnisse mit einer Freundin teilte. Und Alenya hatte sich zu einer ebenbürtigen Kandidatin entwickelt, die genauso in der Lage war, die Fürstin der Segusiavi zu werden, wie Kiana bereit war, die neue Fürstin der Haeduer zu sein.
Einem Impuls folgend lächelte Kiana ihren Vater an, ehe sie antwortete: «Ich danke dir, Vater. Für alles.»
Er wusste, dass sie ihm gerade nicht nur für seine Worte, sondern für ihr ganzes Leben und seine Fürsorge dankte. Ja, Kiana war wirklich von den Göttern geküsst worden.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Aug 24, 2023 ⏰

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