Kapitel 03

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Ich blickte auf die gegenüberliegenden Bahnsteige, wo eine junge Frau ständig auf und ab lief. Diese Nervosität machte mich wahnsinnig und gleichzeitig zog sie meinen Blick an. Ein dunkelblauer Kapuzenpullover umschlang ihren dürren Körper, den sie mit einer weiten Jeans kombiniert hatte. Ihre wenigen Haare, die unter ihrer Kapuze hervorschienen, waren zerzaust und ungekämmt. Ich richtete mich auf und starrte sie interessiert an, als sie mit intensivem Blick vor dem Gleis stehenblieb und hinunterstarrte. Ihre Arme waren in ihren Ärmeln versteckt, und der Wind peitschte ihr ins Gesicht. Dann drehte sie sich abrupt um und lief das Gleis entlang. Ich zuckte mit den Schultern und öffnete wieder das Spiel auf meinem Handy. Ein lauter Schrill ertönte und riss mich aus meinen Gedanken. Meine Augen kniffen sich zusammen, damit ich mich auf die undeutliche Ansage, die gerade aus den billigen Lautsprechern kam, konzentrieren konnte. „Am Gleis Vier fährt ein ICE nach Frankfurt. Vorsicht bei der Einfahrt!" Aber es war nicht mein Zug, also schweiften meine Gedanken wieder ab.

Und dann sah ich die hängenden Schultern der Frau, die nur wenige Schritte von der Gleiskante entfernt war. Ich konzentrierte mich auf die Gesichter der anderen wartenden Personen. Abwesend starrten sie nach unten. Niemand schien die Frau am Bahnsteig zu beachten. Selbst der Geschäftsmann neben ihr starrte desinteressiert in die Luft. Wie sie so da stand, mit ihrer leblosen Mimik und den verquollenen Augen, ließ mich dieses ungute Gefühl einfach nicht los. Der Anblick hinterließ Gänsehaut auf meinem gesamten Körper, und mein ganzer Magen zog sich einfach zusammen. Quälend langsam trat die Frau einen Schritt nach vorne. Ich klammerte mich an meine Jacke, die in meinen Händen zerknitterte. Und noch ein Schritt. Und noch ein Schritt. Und dann wurde mir klar, was passieren würde: Diese Frau würde gleich vom Bahnsteig stürzen. Irgendjemand muss doch etwas tun? Es muss nur jemand aufs Gleis und sie dann da wieder herausziehen?

Alle Köpfe starrten nach unten. Sieht denn niemand? Aufquellender Schweiß durchtränkte meinen Rücken. Dann bewegte sich endlich der Geschäftsmann auf die Frau zu und beugte sich zu ihr hinunter. „Pass doch auf und geh mal vom Gleis zurück", schnauzte er sie an. Ihre Augenbrauen senkten sich über die schmalen Augen, und ihre Stirn legte sich in tiefe Falten. Die Nasenflügel zuckten, während sie tief einatmete, und ihre Lippen wurden zu einer straffen Linie. Die Frustration, die in ihr aufstieg, platzte aus ihr heraus: „Eyy, verpiss dich! Und glotz mich nicht so an!" Sie schmiss ihren Arm nach oben und zog dann ihre Kapuze noch tiefer ins Gesicht, als sich der Geschäftsmann genervt von ihr abdrehte.

Ein Druck legte sich auf meine Brust, ein Gefühl der Enge, als würde sich etwas Unsichtbares auf mich legen. Mein Atem wurde flacher und schneller, als ich den angekündigten Zug aus der Ferne donnern hörte. Bald ist er da. Die Lichter des Zuges tauchten auf, zuerst einzelne Funken, die langsam größer und heller wurden, als sie den Nebel durchbrachen. Während ich versuchte, mich zu sammeln und die Kontrolle über meine Gedanken zu behalten, spürte ich, wie meine Denkprozesse stockten. Die Frau - die Frau trat einen Schritt. Ihr Bein schwebte in der Luft, und dann kippte ihr Körper in sich zusammen. Ihre Muskeln zuckten im Fall. Ihr Kopf donnerte auf die Schienen.

Adrenalin pochte in mir auf. Ein plötzlicher Stich aufgeregter Energie durchfuhr meine Brust, und ich spürte, wie mein Herzschlag an Tempo zunahm. Mein Puls dröhnte in meinen Ohren, als ich heftig einatmete, um meinen Körper mit frischem Sauerstoff zu versorgen. Ich konnte das Prickeln in meinen Fingern spüren, während ich aufsprang und auf das Gleisbett zulief. Meine Hand klammerte sich an die obere Kante vom Bahnsteig fest, und mein restlicher Körper ließ sich auf das Gleisbett fallen. Meine Hand zuckte und rutschte schmierig Zentimeter um Zentimeter nach unten. Dann prallte ich mit meinem Rücken auf das Gleis.

Ein Schmerz durchdrang meinen Körper, als ich meine Hände ausstreckte, um den Sturz abzufangen. Die immer lauter werdenden Rollgeräusche des Zuges erfüllten mich, als ich mich panisch dem schlaffen Körper näherte und dann ihr Handgelenk packte und hektisch daran zog. Ihre Augen waren verschlossen, ihre Stirn war von Schweiß durchtränkt, und ihre Wunde pochte quälend. Die Geräusche um mich herum verschwammen zu einem hektischen Durcheinander: Atemzüge, unverständliches Gemurmel, dumpfe Klänge, rollender Zug. Mein Herz schlug in einem unerbittlichen Takt, als würde es versuchen, dem Chaos zu entkommen. Jetzt packte ich sie am Arm und versuchte, sie irgendwie hochzuziehen. Ihr schlaffer Körper wog schwer in meiner Hand und zog mich förmlich zu sich hinunter. Meine Muskeln zitterten vor Anstrengung, und der Stoff von ihrem Pullover rutschte mir langsam davon. Ich packte sie erneut, und dann durchdrang das Dröhnen des Zuges meinen Kopf. Der unaufhaltsame Zug steuerte in den Bahnhof ein.

Eine Welle der Hilflosigkeit durchzog mich, als ich mich an sie klammerte und versuchte, mich selbst hochzuziehen. Aber die Kräfte schienen gegen mich zu arbeiten, und meine Muskeln zitterten vor Erschöpfung. Die Dunkelheit schien sich zu verdichten, und die Panik in meinem Inneren wuchs, während sie mich zu erdrücken schien. Und dann streckte mir jemand eine Hand entgegen. Ich klammerte mich an den leblosen Körper der Frau und hob ihn mit letzter Kraft hoch, um ihren Oberkörper dem am Bahnsteig knienden Geschäftsmann zu übergeben. Seine Hände krallten sich in ihre Schultern, und er zog sie quälend langsam nach oben. Sein Gesicht hatte sich zu einer Fratze verzogen, als er die Frau die letzten Meter hochschleifte, und dann endlich reichte er mir noch einmal seine Hand. Ich ergriff sie, und sein fester Druck zerquetschte fast meine Hand, während ich meine schlaffen Muskeln mit vereinter Kraft anspannte und auf den festen Untergrund zurückkehrte.

Der Zug schmetterte mit einem Pfeifen in den Bahnhof ein.


Gleis des Lebens (Moment Story)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt