1 | Im Schatten der Realität

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~ Wann unterscheidet man zwischen Realität und Traum? Wer macht dir klar, dass du aufwachen musst? ~

Mein Blick gleitet durch unser Wohnzimmer und wird von einer Welle der Erinnerungen erfasst. Früher war dieser Raum warm und einladend, doch jetzt scheint die einstige Atmosphäre verloren gegangen zu sein. Der großzügige, offene Raum, der mit bequemen Möbeln gefüllt war, wirkt nun leer und ohne Leben. Auf dem Couchtisch stapeln sich abgenutzte Bücher und Zeitschriften, die von einer feinen Staubschicht überzogen sind.

Meine Augen wandern zu den Wänden, an denen Familienfotos und Kunstwerke von Milan hängen. Unter dem Fenster steht eine Pflanze, die damals neuen Schwung in den Raum bringen sollte, doch auch sie ist mittlerweile verwelkt. Dennoch spüre ich die Präsenz meiner Frau und meines Sohnes überall um mich herum.

An manchen Tagen sitzen wir gemeinsam auf der Couch und schauen einen Film; meistens schläft Milan dabei ein, während Eva ihn liebevoll ins Bett trägt. Oft versammeln wir uns auch auf dem kleinen Spielteppich im Wohnzimmer, den wir für unseren Sohn ausgelegt haben. Heute ist es Eva, die mit ihm auf dem Boden sitzt und Türmchen aus Bauklötzen baut. Milan liebt es, mit diesen Klötzen zu spielen, ganz gleich in welcher Form oder Farbe sie sind. Mit beeindruckender Präzision stapelt er sie zu einem hohen Turm. Vielleicht hängt das auch mit seiner Krankheit zusammen, aber das stört uns nicht. Für uns zählt nur eines: Je höher der Turm, desto glücklicher ist er.

»Papa, Papa!«, ruft Milan aufgeregt und rudert mit seinen kleinen Armen. Stolz zeigt er auf den Teppich und präsentiert mir sein Werk. Ein breites Grinsen zaubert seine Zähnchen zum Vorschein. Ehrfürchtig nicke ich und halte ihm meinen Daumen entgegen, während ich zu meiner lächelnden Frau blicke. Sie strahlt ebenfalls vor Stolz, wenn auch aus einem anderen Grund. Ich kann ihre Freude nachvollziehen; Milan hat gerade eine gute Phase, in der er nicht ununterbrochen weint oder getragen werden möchte. Das ist eine enorme Erleichterung für uns.

Plötzlich stockt mir der Atem. Ein schmerzhaftes Gefühl umklammert mein Herz und lässt mich keuchen. Warum tut es so weh? Sie sind doch hier, bei mir. Ich kann sie spüren.

»Du siehst müde aus«, sagt Eva, die unvermittelt neben mir sitzt und mich besorgt anblickt. Ich winke ab. Während Milan weiterhin Klötzchen stapelt, faltet sie ihre Hände auf ihrem Schoß und knetet sie unruhig. Ich kann ihr nichts vormachen; Eva weiß immer, wie es mir geht. Vorsichtig rückt sie näher, ohne mich zu berühren.

»Du solltest mehr schlafen, Liebling«, flüstert sie zaghaft, während Tränen in ihren Augen aufsteigen. Ich möchte ihr keine Sorgen bereiten – nicht noch mehr. Sie kämpft bereits genug damit, jeden Tag zu hoffen, dass es ein guter Tag wird. Außerdem hat sie recht: Schlafen klingt gut, Träumen wäre schön. Vor allem würde es den Schmerz lindern und mir für einen kurzen Moment das Gefühl nehmen, innerlich zu verkümmern.

Im Bett kann ich meine Frau in den Arm nehmen, mich an sie kuscheln und ihren wunderbaren Duft nach Rosen und Wald einatmen. Ich kann Milan beruhigen, wenn er zu uns kommt und nicht schlafen kann. Selbst wenn er mir mit seinen kleinen kalten Füßchen einen Streich spielt und sie unter meinen Waden versteckt – ich nehme es ihm nicht übel. Er braucht diese Nähe; dann geht es ihm besser.

»Und etwas essen solltest du auch.« Langsam hebe ich meinen Kopf und blicke in ihre wunderschönen blauen Augen. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich mich in sie verliebt habe – damals im Sandkasten unserer Kita, als sie mich gebeten hat, ihr beim Graben bis zum Erdkern zu helfen. Nichts ist ihr zu anstrengend gewesen; sie hat nie auf aufgegeben. Diese Lebensfreude und der eiserne Wille haben mich schon als Kind fasziniert. Ein Stich durchzuckt meinen Körper. Milan sollte auch in diesen Kindergarten gehen – im Sommer wäre es so weit gewesen.

Am Ende deines RegenbogensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt