6 - Kreaturen der Nacht

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Als Noak endlich die gezackten Höhen von Hrantosh, dem Drachenberg erspähte, zeigte der Himmel im Osten bereits eine zögernde Spur von Rosa. Der Anblick ihres Ziels gab ihr neue Energie, aber sie wusste, dass sie sich jetzt nicht verausgaben durfte. Die Anstrengung einer Nacht unterwegs machte jeden weiteren Flügelschlag zu einer Herausforderung. Wenn ihre Einschätzung richtig war, konnte ein stetiger Flug sie noch rechtzeitig vor Sonnenaufgang an ihr Ziel bringen. Die Höhlen in der Nähe des Gipfels würden ihre empfindliche Haut während des kommenden Tages vor Verbrennungen durch die Sonnenstrahlen schützen. Natürlich nur, falls sie sich nicht verrechnet hatte. Ein Blick zum Mond beruhigte sie. Es blieb genug Zeit und war nicht notwendig, mit einem Sprint ihre letzten Reserven zu verbrennen.

Während sie sich dem Ziel ihrer Reise näherte, rollte eine dunkle Wolke über den Gipfel und verschlang die bekannten Konturen. Der majestätische Berg war nur selten in seiner ganzen Pracht zu sehen, aber Noak war nun sicher, dass ihre Flugrichtung stimmte. Sie hatte vor Jahren die Gelegenheit gehabt, in den tiefen Schlund des Kraters von Hrantosh zu blicken und die Glut im Inneren des Berges schwelen zu sehen. Obwohl sie sich nicht erinnerten konnte, wann der Berg zum letzten Mal Feuer gespuckt hatte, kannte sie jemanden, der sich an dieses Ereignis erinnerte. Und heute würde sie ihm einen Besuch abstatten.

Der Gedanke an ihren Plan ließ sie eine schwarze Rauchwolke durch die Nüstern blasen. Vermutlich stand ihr Ärger bevor.

Mit kräftigen Flügelschlägen ließ die Hrankae nun die bebauten Felder des Flusstals hinter sich. Der bewaldete Grund unter ihr stieg stetig an und mächtige Tannen streckten ihre Finger gegen den Himmel. Noak bemühte sich nicht, höher zu steigen oder in ihre Schattenform zu wechseln. Noch nicht. Es würde sie zu viel ihrer kostbaren Energie und Zeit kosten. Zu dieser Stunde waren ohnehin nur Kreaturen der Nacht unterwegs. Selbst wenn zufällig ein Mensch sie beobachtete, konnten seine plumpen Waffen ihr nichts anhaben. Ein Nestling mochte verwundbar sein, bevor er seine Schattenform beherrschte. Aber ein ausgewachsener Drachenschatten stand außerhalb der menschlichen Reichweite.

Entfernter Donner rollte durch die kühle Nachtluft und sandte ein Zittern durch Noaks Flügel. Sie schnaubte. Ein Gewittersturm war das letzte, das sie heute brauchte. Bisher hatte sie aber noch keine Blitze gesehen und fragte sich, ob das Donnern wohl aus dem Berg kam und nicht aus den Wolken. Vielleicht waren die Kereshí unterwegs. Nur wenig war bekannt über diese alten Berggeister, die ausgesprochen selten ihr unterirdisches Reich verließen. Halbvergessene Legenden berichteten, dass sie in den Tunneln tief unter Hrantosh hausten, wo die Feuer der Erde brannten und geschmolzener Stein die ältesten der uralten Wesen auch im kältesten Winter wärmte.

Noak schob diese Gedanken beiseite als sie in die schweflige Wolke eintauchte, die den Gipfel des Drachenbergs umhüllte. Der beißende Geruch, den die Drachenschatten von Eshte mit Heimat verbanden und so sehr liebten, war zu scharf für Noak. Über den eisigen Höhen von Eshekir, wo sie in einer abgelegenen Eishöhle aufgewachsen war, wehte der Wind klar und frisch. Sie sehnte sich nach ihrem Zuhause, aber bevor sie dahin zurückkehren konnte, musste sie den stinkenden Atem der Berge von Eshte ohne Klage ertragen.

Die Höhle des Ältesten lag hoch an der westlichen Flanke in einer verborgenen Schlucht, die von der Sonne nie berührt wurde. Es war nicht einfach, die Stelle in all dem Rauch zu finden, aber bevor die ersten Sonnenstrahlen über den östlichen Horizont kletterten, erspähte Noak die bizarre Felssäule, die den Eingang markierte. Sie winkelte ihre Flügel an und ließ sich tiefer fallen, bis sie den Kopf der Säule mit den Klauen packen konnte. Mit flappenden Flügeln suchte sie am porösen Felsen Halt. Sie hatte es geschafft.

Der Höhleneingang lag an der Stelle, an die sie sich erinnerte, in der Mitte einer steilen Felswand. Es war eigentlich nur ein schmaler Spalt und sie musste ihre Schattenform annehmen, um sich da hindurchzuzwängen.

Noak blinzelte mit ihren blassgelben Augen, konzentriere sich und gilt aus ihrer soliden Gestalt fließend in die Schattenform hinüber. Nun würde ein Beobachter nur noch einen verdichteten Schatten sehen, einen diffusen Fleck kompletter Dunkelheit. Für Noak fühlte sich dieser Zustand nicht besonders an, abgesehen davon, dass sie empfindlicher auf Magie reagierte. Deshalb spürte sie die Anwesenheit des Ältesten bereits hier draußen und war überzeugt, dass er sie ebenfalls wahrnahm. Es lohnte sich darum nicht, hier draußen Zeit zu verlieren. Wie eine Wolke aus tiefschwarzem Nebel bewegte sie sich über die Felswand und hielt direkt vor dem Höhleneingang inne.

„Ältester, ein Wanderer bittet um die Erlaubnis, dein Heim zu betreten."

„Der Tag bricht gleich an. Gibt es keinen anderen Ort, wo du dich verstecken kannst?" Die tiefe, rumpelnde Stimme lies den Felsen unter Noaks Klauen erzittern.

Sie unterdrückte eine ärgerliche Antwort. Ranoz war noch nie für seine Höflichkeit bekannt gewesen, aber seit dem Tod der Königin der Nacht hatte er sich vollkommen zurückgezogen und war zum Einsiedler geworden. Noak knirschte mit den Zähnen, gab aber ihrer Stimme einen versöhnlichen Klang.

„Den gibt es nicht. Danke für die Gastfreundschaft, Ältester."

Mit einer Wendigkeit, die sich kaum mit der Masse ihres Körpers vereinen ließ, schlüpfte sie in die Höhle. Nicht weit vom Eingang hatte sich der grösste Drachen, dem sie jemals begegnet war, auf einem Felsband zusammengerollt. Dabei benutzte er den mächtigen Schild an seinem Schwanzende, um seine Augen zu bedecken.

„Meine Grüße, Ältester." Sobald sie weit genug in der Höhle drin war, um Platz für ihren Körper zu finden, wechselte sie zurück in ihre solide Form.

Der riesige Hrankae hob kurz den Schild und öffnete ein Auge. Seine schrägstehende Pupille war ein dunkler Schlitz in der goldenen Iris. „Noak. Was bringt die Hüterin der Höhen von Eshekir dazu, soweit zu reisen?"

Noak unterdrückte ein Grummeln. Ranoz war noch genauso nervig wie sie sich erinnerte. Aber er war es, der in der momentanen Situation helfen konnte — vielleicht, es ihr gelang, seinen Panzer aus Ablehnung zu durchdringen.

„Menschliche Geschäfte. Es wird einen Krieg geben."

Schwarzer Rauch kräuselte sich über den Nüstern des Ältesten und zeigte deutlich seinen Unmut. „Ich kümmere mich nicht um menschliche Geschäfte."

„Ich ebenfalls nicht. Aber du weißt, dass menschliches Blutvergiessen die Wesen der Nacht sehr wohl betreffen kann." Naon war nicht über das halbe Haontal geflogen, um sich nun abweisen zu lassen.

Ranoz blinzelte. „Das wäre etwas, worum sich die Ahranan kümmern müsste, die Königin der Nacht. Leider ist sie vor drei Sommern gestorben."

„Sie hinterließ eine Erbin." Noak kannte die Geschichte vom tragischen Tod der Königin Haonàn.

„Die junge Tanàn hat ihr Erbe niemals angetreten. Sie verschwand und überließ die Wesen der Nacht ihrem Schicksal." Der Drachenschatten hob nun seinen Kopf von den mächtigen Pranken.

So erschöpft sie war, Noak war erleichtert, dass sie das Interesse des Ältesten hatte wecken können. „Genau. Und deshalb sollten wir Wesen der Nacht uns zusammentun und uns um unser eigenes Schicksal kümmern. Und das bedeutet, wir müssen die Kaedin und die Xylin im Haontal beschützen, wo die menschlichen Armeen aufeinanderprallen werden."

Ranoz schüttelte seinen massigen Kopf. Eine langsame und bestimmte Geste. „Xylin und Kaedin sollten die Gebiete der Menschen meiden, so, wie wir es tun."

„Du weißt genau, dass das nicht möglich ist. Die Kaedin können nicht überleben, wenn es keine Feuchtgebiete und Flussauen für sie gibt. Die eisigen Höhen von Eshekir oder deine Feuerberge wären ihr Tod. Das gleiche gilt für die sanften Xylin. Sie mögen anpassungsfähiger sein, aber gedeihen können sie nur in in den Wiesen und Wäldern des Haontals."

„Was erwartest du von mir, Noak?" Ranoz ließ den Kopf auf die Vorderpranken fallen und rollte seine goldenen Augen.

„Einen Platz, um den Tag zu verschlafen." Noak kuschelte sich am anderen Ende der Höhle zusammen. Ranoz' Blick verfolgte jede ihrer Bewegungen. Sie konnte seine Ablehnung beinahe in den Knochen spüren. Sobald sie eine bequeme Stellung gefunden hatte, blinzelte sie dem Ältesten freundlich zu. „Und natürlich deine Hilfe bei der Ausführung meines Plans."

Liha & Dánirah - Der Drache und die TräumerinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt