Prolog

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Deutschland, Hannover – 10. Mai 1927

„Eure Vorteile liegen nicht im Verstecken spielen!"

Raiks Stimme hallte genervt durch die scheinbar leere Trainingshalle. Sein Blick glitt über die Boxsäcke, die zwei Kampfringe, die Regale voller Trainingsgeräte und die unzähligen Netze, Tücher, Seile und Stangen, die überall an den Decken und Wänden der ehemaligen Lagerhalle befestigt waren. Doch von seinen beiden Schützlingen war auf den ersten Blick nichts zu sehen. Auf den ersten Blick.

Raik atmete tief ein. Alter Schweiß, altes Leder, und der Geruch einer frischbelegten Stulle schlug ihm entgegen. Und darunter ... ja. Da war es. Der Hauch von Süße und Verwesung, der jedem Vampir so subtil anhaftete, wie ein nicht ganz passendes Parfum. Es kam von rechts und etwas schwächer von weiter hinten. Raik spürte, wie ein Grinsen an seinen Mundwinkeln zupfte, als seine Jagdinstinkte ein sanftes Kribbeln durch seinen Körper rieseln ließen.

„Dann auf die harte Tour", säuselte er und folgte der Spur. Seine Sinne waren nicht so scharf wie in seiner Wolfsform. Doch für diese Übung würde es reichen.

Plötzlich fiel ein Schatten aus einem der Tücher auf ihn herab. Raik sprang zurück und die Vampirin prallte vor ihm auf den Boden, rollte sauber ab und kam zwei Meter weiter wieder auf die Beine, ehe sie nach hinten auswich.

Seine Füße zuckten, wollten hinterher. Doch er beherrschte sich. „Nicht weglaufen, Claudi!" Demonstrativ zog er das lange, blassrosa Seidentuch von seinem Gürtel. Das heutige Ziel seiner Rekruten. „Ihr wollt das hier! Und wenn ihr flieht kann ich mich erholen." Er grinste süffisant, eine unverhohlene Drohung, und steckte das Tuch zurück an seinen Gürtel. „Und das wollt ihr nicht."

Als Werwolf war er schneller und stärker als der durchschnittliche Vampir, doch sie hatten die besseren Reflexe. Und vor allem wurden ihre toten Körper – im Gegensatz zu seinem – niemals müde. Die idealen Voraussetzungen für Treibjagden. Nur seine beiden Rekruten waren nicht davon überzeugt.

Betont langsam folgte Raik der Vampirin in den hinteren Teil der ehemaligen Lagerhalle. Hier irgendwo war Nummer zwei. Trudi. Doch die ließ sich nicht blicken. Also fixierte er Claudi, die mit dem Rücken zur Wand stand – und schnellte nach vorn. Sie wich aus. Doch er hatte damit gerechnet und hechtete hinterher, um die zierliche Gestalt in einen unvorteilhaften Nahkampf zu zwingen. Er bekam ihren Arm zu fassen. Ein triumphierendes Grollen rutschte aus seiner Kehle, als er mit geübten Griff ihre Hand packte, um Gelenke in Richtungen zu zwingen, für die sie nicht ausgelegt waren. Doch noch ehe etwas kritisch knacken konnte, sprang eine Gestalt von der Seite auf ihn zu.

Ruckartig riss er Claudi herum und stieß sie in Trudis Richtung. Das erschrockene Kreischen der beiden summte in seinen Ohren, seinem Blut. Er wollte mehr. Er wollte sie schreien hören.

Mit einem leisen Knurren setzte er den sich überschlagenden Körpern nach und trat auf die erste Hand, die er erwischen konnte. Jetzt hatte er seine Schreie.

Der Werwolf lächelte, wollte den zuckenden Fingern nachsetzen. Aber da zielte aus dem Nichts ein Fuß auf seine Kniekehle – und traf. Als er zusammensackte, war es Trudi, die auf ihn zustürzte und nach dem Tuch griff. Aus reinem Instinkt heraus warf er sich herum, rollte außerhalb ihrer Reichweite. Doch anstatt ihm nachzusetzen blieb sie bei ihrer verletzten Partnerin, die ihre Hand an ihre Brust presste.

Raik seufzte genervt. „Das heilt bis morgen. Mit der Priorität werdet ihr euren zweiten Auftrag nicht erleben."

Du bist wirklich hart zu ihnen." Die Stimme riss sie alle aus ihrem Szenario.

Raik brauchte einen Moment, um zu begreifen, wer der Mittfünfziger im dunklen Anzug war, der die Halle betreten hatte. Ruckartig kam der Werwolf auf die Füße. „Van Leesten", grüßte er den hochrangigen Marshall, durch dessen Hände alle relevanten Ordenseinsätze in Deutschland gingen. „Sie sind alt geworden."

Der Geschmack von AscheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt