Epilog

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Raik saß am Ufer der Spree und sah der Sonne dabei zu, wie sie nach einem langen Tag endlich begann, hinter den Häusern zu verschwinden. Er wünschte, er könnte seine Gedanken ebenso verschwinden lassen. Doch das funktionierte nicht. Ihm ging der Tag nicht aus dem Kopf. Das Feuer. Das Tanzen mit Lilly. Die erfolgreiche Suche nach dem Versteck der Brandstifter. Das Tanzen mit Lilly. Die Besprechung im Anschluss. Das Tanzen mit Lilly. Wieder spürte er ihren zerbrechlichen Körper in seinen Händen, ihre kühlen Hände auf seiner Haut, ihre Augen, die sich glühend in seine bohrten. Alles nur Show. Und doch...

Raik lachte leise über sich selbst und trank den letzten Schluck aus seiner Bierflasche, ehe er sie zu den drei anderen stellte. Er sollte ehrlich zu sich sein: Es war nicht der Tag, der ihm nicht aus dem Kopf ging, sondern diese paar Momente, als sie ihm so nah war wie früher – so nah sein musste – und nicht weglaufen oder ihm Vorwürfe machen konnte. Diese paar Momente, als seine Welt sich wieder ein bisschen in Ordnung angefühlt hatte. Raik seufzte und griff sich die nächste Bierflasche.

Gott, er hatte so verkackt.

Vertraute Schritte hinter ihm, wenn auch etwas unregelmäßig, müde. Er musste nicht einmal zur Seite blicken, um zu wissen, dass es Lillian war, die links von ihm stand. „Ich würd ja sagen, ich hab grad an dich gedacht – aber ich denke schon die ganze Zeit an dich", murmelte Raik in die sich ausbreitende Dunkelheit hinein und spürte dem Alkohol nach, wie er seinen Kopf schwer und die Gedanken träge machte. Gab Schlimmeres.

Lillian murrte etwas Unverständliches und schob mit dem Fuß ein wenig Dreck beiseite, der auf der Erde lag, wie überall. „Soll ich dir noch was holen oder reichen die acht Flaschen?"

Träge linste Raik zu seiner Rechten, wo er die besagten acht leeren Flaschen fein säuberlich neben sich aufgereiht hatte. „Waren mal neun", korrigierte er ihre Aussage und deutete auf die Scherben, die sich vor ihm verteilten. „Kam vorhin so'n Penner und wollte mir mein Zeug abnehmen. Hab ne Flasche zerschlagen und gedroht, ihm den Hals aufzuschlitzen, wenn er nicht abhaut."

„Aha." Mehr sagte sie nicht. Kein Vorwurf. Keine Anklage. Stattdessen setzte sie sich auf das eben freigeräumte Stückchen Boden neben ihn und legte ihre Umhängetasche zwischen ihnen ab, als wäre es eine Mauer. Er konnte noch immer nicht glauben, dass sie das olle Ding gerettet hatte. Aber gut – die Schätze darin waren zumindest für sie mehr als ein Leben wert.

Raik schloss die Augen und atmete tief ein. Zusammen mit dem ganzen Dreck der Stadt und des Alltags kroch auch ihr süßer Duft in seine Nase. Wie fallende Blätter im Herbstregen. Es kam ihm unwirklich vor, dass sie nach all den Jahren von ganz allein zu ihm kam. Was wohl in ihr vorging?

„Hör auf, mich anzuschnüffeln", murrte sie leise und ein kurzes Grinsen huschte über das Gesicht des Werwolfs.

„Wer weiß, wann ich wieder zu Gelegenheit habe...", lallte er kaum verständlich. Doch bei dem Gedanken klärte sich sein Geist auf unangenehme Weise wieder ein wenig und die Ereignisse des Tages drängten sich in den Vordergrund.

„Als du Siggi heute magdeburgisiert hast-"

Lillian schnaubte belustigt, als sie den Begriff hörte, der vor knapp drei Jahrhunderten aus aller Munde ängstlich geflüstert wurde und für die völlige Vernichtung einer Stadt stand.

„Hast du ihm dabei die Phönixfeder gezeigt?" Raik versuchte, die Frage so leicht klingen zu lassen, wie sein Kopf bis vor wenigen Momenten noch gewesen war. Doch es gelang ihm nicht ganz, die Sorge daraus zu verbannen. Er wollte nicht, dass ein Naseweis wie Siegfried von den Gründen seiner Unsterblichkeit wusste.

Lillian schwieg lange, ehe sie schließlich antwortete: „Nein. Natürlich nicht."

Raik nickte bedächtig und nahm einen weiteren, erleichterten Schluck aus seiner Flasche. Natürlich konnte er sich auf sie verlassen. Trotz allem, was gewesen war „Danke."

Der Geschmack von AscheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt