Kapitel 1

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CAJA

Will Killen – The Outside

Die Zugtüren öffnen sich vor mir und Menschen kämpfen sich durch den schmalen Schlitz der fahrbaren Schlange auf den Bahnsteig in die Freiheit.

Vereinzelt dringen ein paar Sonnenstrahlen durch den dichtverhangenen Wolkenhimmel in die Atmosphäre des Bahnhofs ein. Erhellen das trostlose Grau aus dem sich der Komplex zusammensetzt. Unterbrochen durch menschliche Farbpunkte mit gehetzten, lächelnden oder traurigen dreinschauenden Gesichtern. Junge und Mädchen verabschieden sich tränenreich voneinander. Zwei Kinder streiten sich. Die Schlichtungsversuche ihrer Eltern prallen wirkungslos an ihnen ab. Ein alter Mann stützt sich auf seinen Gehstock auf der Suche nach Halt. Irgendwo über uns fliegt eine Krähe und gibt ihren Unmut darüber Preis, dass es vermutlich gleich regnen wird.

Ich bin auf dem Weg nach Erfurt für eine Wohnungsbesichtigung in einer WG. Nachdem ich direkt nach dem Abitur eine Pause von allem und jedem brauchte, ist es nun langsam an der Zeit wieder in die Realität zurückzukehren. In eine Realität, die ich eigentlich immer noch versuche, zu verdrängen. Viel lieber lebe ich in meinen Büchern, auf den Bergspitzen dieser Welt oder am Strand, wenn die Wellen mir zu flüstern, bis an das Ende des Universums zu schwimmen und nicht mehr zurückzusehen. Zu vergessen was war, mit dem Fokus auf das, was kommen wird. Ich war mal hier, mal dort. Bin gereist, bin geblieben. War unterwegs oder habe mich im Kreis auf der Stelle gedreht.

Seit ein paar Wochen bin ich zurück in Deutschland im Umfeld meiner Familie, nachdem ich Knall auf Fall vor fast genau 365 Tagen aus deren Leben und meinem eigenen verschwand.

Es wird Zeit in den Zug einzusteigen. Das merke ich daran, dass fast niemand mehr am Gleis steht. Mein Blick wandert zur Anzeigetafel und gleichdarauf zur klobigen Bahnhofsuhr, um die eine Vielzahl von Spinnen Netze gewoben haben. Die Uhrzeiger sind irgendwann stehengeblieben: Fünf vor Zwölf. Wie schön es doch wäre, wenn meine Lebensuhr dieselbe Zeit anzeigen würde. Wenn ich die Möglichkeit hätte, kurz vor knapp nochmal eine andere Entscheidung zu treffen als ich sie damals getroffen hatte. Eine, die eher nicht an Fünf nach Zwölf erinnert.

Ich betrete den Zug. Sofort steigen mir die stickigen Ausdünnste der letzten Passagiere in die Nase, wogegen die Klimaanlage verzweifelt versucht, anzukämpfen. Mein Ziel ist nur eine Dreiviertelstunde entfernt, sage ich mir im Stillen, irgendwie werde ich das schon überleben.

Im Vergleich zur Ankunft ist der Zug um einiges leerer, sodass ich sogar einen Platz am Fenster in einem Vierer bekomme. Nachdem ich mich gesetzt und meinen Rucksack ordentlich zwischen meinen Beinen verstaut habe, greife ich in meine linke Jackentasche auf der Suche nach meinen Kopfhörern. Zunächst fühlen sich die kleinen Stecker kühl in meinen Ohren an, doch schon wenige Sekunden später passen sie sich meiner Körpertemperatur an.

Es dämmert bereits. Wenn ich in Erfurt ankomme, wird es vermutlich dunkel sein. Ich starte die Musik und freue mich darauf, bald einen neuen Lebensabschnitt beginnen zu können, der mit meiner Vergangenheit am besten nichts mehr zu tun haben wird.

Mein Blick richtet sich in die Ferne. Die Gedanken verschwimmen zu einer großen Masse, die es mir oftmals unmöglich macht, Ordnung in das Chaos zu bringen, dass mich täglich begleitet.

Blätter wirbeln vom Wind getragen durch die Luft. Der Herbst ist endlich angekommen, im Kopf und im Herzen. Ich schlage das kleine Notizbuch auf, ohne das ich niemals das Haus verlasse und beginne zu schreiben:

Ich laufe durch die dunklen Gassen,

überall liegen bunte Blätter auf den Straßen,

der Herbst ist endlich angekommen,

Falling Leaves [GER]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt